Zwei Lager und eine Schnittmenge

In Israel formiert sich die neue rechtsreligiöse Regierung. Eine Mehrheit würde sich allerdings eine große Koalition wünschen.

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Am 15. November 2022 wurde die neue Regierung in der Knesset angelobt. Auf dem Foto: Benjamin Netanjahu (li.) und das Sprachrohr der extremen Rechten, Itamar Ben-Gvir (re.). Bild unten: Ben-Gvir (li.) an der Seite von Bezalel Smotrich (re.) von der rechts-religiösen nationalen Union. © ABIR SULTAN / AFP / picturedesk.com

Allerspätestens bis zur letzten Chanukka-Kerze muss die neue Regierung stehen. Das ist die Deadline. Es kann gut sein, dass Benjamin Netanjahu die dabei schon eingeschlossene 14-tägige Verlängerungszeit nicht mehr braucht. Jedenfalls dauern die Koalitionsverhandlungen aber schon jetzt viel länger als angenommen. Denn in seinem anfänglichen Enthusiasmus war der künftige Premier davon ausgegangen, in nur wenigen Tagen eine Regierung beisammen zu haben.

Die Wirklichkeit sah anders aus. Seine „natürlichen“ drei Partner – religiöser Zionismus, Vereintes Thora-Judentum und Shas – machen ihm das Leben nicht leicht. Es wurde und wird weiterhin hartnäckig um Zuständigkeiten gerungen, Ministerien sind dabei zerstückelt und neue Aufgabenbereiche erfunden worden. In Netanjahus LikudPartei ist man alles andere als glücklich darüber. Dort herrscht das Gefühl, dass die neue Koalition ein bisschen sehr auf die eigenen Kosten geht. Die mittelbar Betroffenen, also die breite Wählerschaft, lässt sich unterdessen in zwei Lager einteilen, die wiederum in sich gespalten sind.

Einen Vorgeschmack auf das, was da noch kommen könnte, bot der junge Soldat in Hebron, der sich vor der Kamera auf die neue Ära Ben-Gvir berief, bevor er einem linken Aktivisten handgreiflich die Leviten las.

Im ersten Lager gibt es solche, die sich  über die neue Rechtsaußenregierung schlichtweg freuen und andere, die sie als angebrachten Ausdruck der Demokratie feiern, auch wenn sie sich selbst durchaus vor deren potenzieller Radikalität fürchten. Letztere beruhigen sich damit, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Sie verweisen darauf, dass es ja auch in der Vergangenheit bereits Regierungen unter der Beteiligung streng religiöser Parteien gegeben habe, ohne dass am Status Quo gerüttelt worden sei. Und dann gebe es die normative Kraft des Faktischen.Nach dieser Logik werden sich auch weniger berechenbare Hitzköpfe wie Itamar Ben-Gvir und Ideologen wie Bezalel Smotrich, der den Rechtsstaat als „krank“ bezeichnet, einmal fest auf ihren neuen Posten sitzend, dann schon als verantwortliche Politiker erweisen.

Bisher haben sie sich allerdings als ziemlich hartnäckig und zielstrebig erwiesen. Sie wissen ziemlich genau, worauf es ihnen ankommt. Sie greifen nach der Macht in den Sicherheitsapparaten, bei den Finanzen und in der Bildung.

Einen Vorgeschmack auf das, was da noch kommen könnte, bot der junge Soldat in Hebron, der sich vor der Kamera auf die neue Ära Ben-Gvir berief, bevor er einem linken Aktivisten handgreiflich die Leviten las. In der Armee fand man das alles andere als toll. Der Rekrut bekam zehn Tage Gefängnis. Nachdem er seine Tat bedauert hat, wurde die Strafe auf sechs Tage reduziert Doch während der Generalstabschef Aviv Kochavi den Verstoß gegen die Werte und Regeln des Militärs verurteilte, stellte sich Ben-Gvir öffentlich an die Seite des Soldaten.

Mit jeder weiteren Koalitionsvereinbarung
herrscht noch ein bisschen mehr Untergangsstimmung. Wer nicht ans Auswandern denkt, der redet jetzt von Rebellion und außerparlamentarischer Opposition.

Das gegnerische Lager schaut sich das ungläubig abends im Fernsehen an. Mit jeder weiteren Koalitionsvereinbarung herrscht noch ein bisschen mehr Untergangsstimmung. Wer nicht ans Auswandern denkt, der redet jetzt von Rebellion und außerparlamentarischer Opposition. Der Bürgermeister von Tel Aviv, Ron Huldai, sieht Israel auf dem Weg zu einer Theokratie, mit einer Mehrheit, die einer Minderheit ihren Lebensstil aufdrücken möchte, und will sich dagegen wehren. Er ist nicht allein. Fünfzig Bürgermeister aus dem ganzen Land haben offiziell gegen die Personalie Avi Maoz protestiert. Der Vorsitzende der Noam-Partei, bekannt für seine dezidiert antiliberalen Meinungen, vor allem in Sachen LGBTQ, soll künftig für externe Programme im Schulwesen verantwortlich zeichnen. Maoz hat angekündigt, die nächste Pride Parade in Jerusalem zu verbieten. Auch die sogenannten Konversionstherapien, die illegal sind, will er gerne wieder möglich machen.

© ABIR SULTAN / AFP / picturedesk.com

Zweihundert jüdische und arabische Rektoren des staatlichen Bildungssystems haben sich nun gegen Maoz zusammengetan. In einer Petition sprachen sie sich gegen dessen „rassistische, homophobe, dunklen und extremen Ansichten“ aus, die ganze Gemeinschaften spalten und beschädigen würden. Der Bürgermeister von Ramat haScharon, Avi Gruber, kündigte an, dass seine Ortschaft weiterhin Programme finanzieren werde, die „Gleichstellung, Toleranz gegenüber dem anderen, kritisches und unabhängiges Denken im Sinne demokratischer Werte fördern“. Tatsächlich aber gibt es auch noch ein drittes Lager, das aus einer Schnittmenge der beiden anderen besteht. Dort wird schon lange für eine große Koalition plädiert. Inzwischen wünschen sich ganze 63 Prozent der Israelis, die vor der Wahl dem Anti-Netanjahu-Lager angehörten, dass Benny Gantz seine sämtlichen Versprechen über den Haufen wirft und sich einer NetanjahuRegierung anschließt, um Schlimmeres zu verhindern. 61 Prozent von ihnen machen sich Sorgen um die Zukunft der Demokratie in ihrem Land, genauso denken immerhin auch 41 Prozent der Likud-Wähler. Viele von ihnen möchten auch keine weiteren Einschränkungen am Schabbat im öffentlichen Leben, wie es die Mehrheit in der künftigen Regierung sich durchaus wünschen würde. Gemeint sind Fußballspiele, zu denen man auch gerne mit dem Auto fährt. Immerhin 64 Prozent jener Israelis, die sich selbst als „traditionell“ beschreiben, setzen sich am Wochenende ans Lenkrad. Sie sind weit davon entfernt, streng religiöse Ansichten zu teilen. In den Nachrichtensendungen wird offen darüber spekuliert, bis wann es zu einer solchen Wende kommen könnte. Gar noch vor Ablauf der Frist zur Koalitionsbildung? Spätestens bis Pessach? Oder wird es doch ein längeres Experiment werden, bei dem der Anfang bekannt ist, jedoch nicht der Ausgang? Sicher kann das niemand sagen.

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