„Antisemiten sind Menschenfeinde“

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©anwora.com/Andreas W. Rausch
Zwei streitbare Meinungsbildner: Michel Friedman im Gespräch mit Ariel Muzicant über gemeinsame Themen und unterschiedliche Ansätze.

Michel Friedman war im September in Wien. Er kam auf Einladung des Ehrenpräsidenten Ariel Muzicant und sprach mit diesem in der Seitenstettengasse über ihre gemeinsame politische Vergangenheit, über den Kampf gegen Schwarz-Blau, über Antisemitismus in Europa und über den Nahostkonflikt. Eine Dokumentation von Alexia Weiss.

Ariel Muzicant: Wir entstammen beide der zweiten Generation. Unsere Eltern haben die Schoa überlebt, deine Eltern von Schindler gerettet, mein Vater, meine Mutter, meine Schwiegereltern im KZ, im Arbeitslager – wir sind mit diesem Rucksack zur Welt gekommen. Du bist jemand, der für uns meinungsbildend war in deinem Kampf als Journalist, als Moderator, als Buchautor, als jüdischer Mensch. Wie lebt man mit diesem Rucksack, und wie lebt man in Deutschland oder Österreich mit dieser Geschichte? 

Michel Friedman: Wie man lebt, kann man nicht sagen.

AM: Hat mich schon (lacht).

MF: Ich will das gar nicht kritisch gesagt haben. Wenn man über jüdische Identität spricht, muss man sich mehr und mehr angewöhnen, die Individualität zu betonen und nicht immer das Kollektiv. Unsere Biografien haben Schnittstellen, trotzdem sind sie unterschiedlich. Ich hatte eine Zwischenstation. Ich wurde in Paris geboren, das war eine ganz wesentliche Zwischenstelle. Zwar auch im Kreis der Überlebenden aus der polnischen Community, aber dort war es anders, als wenn ich in Wien oder Berlin mit meinen Eltern aufgewachsen wäre.

Bei uns zu Hause gab es eine Mutter seligen Angedenkens, die tief geprägt war vom Gefühl der Angst. Meine Mutter war 16, als sie ins Ghetto kam, und das erste Gefühl neben der Liebe, das ich kennen gelernt habe, war Angst. Mein Vater seligen Angedenkens war ein Mann, der versucht hat, sein Leben so zu reorganisieren, dass auch Anteile wie Freude und Glück eine Chance haben. Aber sehr erfolgreich war das auch nicht. Interessant war meine Großmutter, 1897 in Krakau geboren, die besser Deutsch und Französisch sprach als ich. Diese Großmama fand ich faszinierend, auch als Gegenmodell zu meinen Eltern. Da sie viel älter als diese in die Vernichtungserlebniswelt verbannt wurde, besaß sie bereits mehr positives Gepäck und schöpfte daraus ein starkes Selbstbewusstsein. Sie wirkte, obwohl sie in dieser mörderischen Zeit alle außer meiner Mutter verloren hatte, wesentlich stabiler auf mich als meine Eltern. Aus mir entstand ein Mischmasch aus vielen dieser Eindrücke.

Ich hatte keine jüdische Sozialisation im Sinn von jüdischem Kindergarten, Schule. Und meine Mutter war letztendlich nach der Schoa eher Atheistin. Mein Vater war jemand, der, wenn ich ihn zu Rosch HaSchana, Jom Kippur in die Synagoge begleitete, für wenige Stunden ins Schtetl zurückkehrte. Als wir dann nach Deutschland kamen, fing ich bereits im nichtjüdischen Makrokosmos meiner Schule an, mich zu engagieren und wurde zum Klassensprecher. Ich hatte immer das Bedürfnis, mich bei Fragen der Gerechtigkeit einzumischen. Und da ich zu Hause immer schon so viel gesprochen hatte, fand ich auch die richtigen Worte. Damit fing meine politische Arbeit an. In der Bundesrepublik gab es damals viele Spuren einer nicht ernsthaft umgesetzten Bewältigung der Nazideutschlandzeit. Lehrer, die einst Kinder ganz bewusst der Gestapo überlassen haben; Polizisten, Richter, sämtliche Gesellschaftsschichten waren noch verseucht. Ich erinnere mich, dass ich einen Chemielehrer hatte, der einen verstümmelten Finger hatte und der seine Stunde stets mit den Worten eröffnete, diesen Finger habe ich an Hitler verloren, und ich bin stolz darauf. Wir waren im Jahr 1964, ’65, ’70, und ich fand das unerträglich. Als Klassensprecher bin ich zum Direktor gegangen und habe mich beschwert.

Wesentlich für meine Prägung war auch zu erleben, wie meine Eltern sich in ihrem Umfeld verhalten haben. Anstatt selbstbewusst und mit Selbstrespekt nach innen und außen aufzutreten, wenn die NPD in Baden-Württemberg plötzlich zehn Prozent bekam, wenn Geschäftsleute unerträgliche jüdische Witze machten; in diesen Situationen zu erleben, wie ungeschützt meine Eltern waren – ich hatte dabei das Gefühl, sie schützen zu müssen. Das führte dazu, dass ich mich langsam auch in der jüdischen Gemeinschaft, die damals nur aus Überlebenden bestand, zu engagieren begann.

Ich habe mich also immer im Makrokosmos der deutschen und im Mikrokosmos der jüdischen Gesellschaft engagiert und schöpfte daraus meine Überzeugung, dass man sich, wenn die Gesamtgesellschaft mit ihren Minderheiten respektvoll umgeht, nicht sorgen muss.

AM: Du hast mir einmal gesagt, dich interessieren die Antisemiten im Grunde genommen nicht, und hast in einer Diskussion vor zehn, 15 Jahren mir gegenüber gemeint: „Was stellst du dich hin mit den Antisemiten, lass sie sein, was sie sind.“ 

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MF: Nicht, lass sie Antisemiten sein. Viel wichtiger ist, dass Antisemiten Menschenfeinde sind. Diese Tatsache zu positionieren ist die Voraussetzung dafür, einer Gesellschaft, die sich von Antisemitismus nicht betroffen fühlt, weil sie nicht jüdisch ist, deutlich zu machen, dass man nicht die Juden beschützen muss, sondern verstehen lernen muss, dass es ein Krebsgeschwür der gesamten Gesellschaft ist, wenn es möglich wird, eine Gruppe zu beleidigen, zu bespucken, körperlich, seelisch zu verfolgen. Bis heute liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit darin, die Zivilgesellschaft zu bestärken, sich mit jedem Menschen in dieser Gesellschaft zu identifizieren. Wenn die Mehrheit der Gesellschaft sagt, dieses Krebsgeschwür wollen wir nicht, dann habe ich als Minderheit auch keine Angst. Ich habe doch keine Angst vor zehn bis 15 Prozent Antisemiten. Das Problem ist, dass die Mehrheitsgesellschaft in der Regel gleichgültig oder mit einer stillen Sympathie reagiert. Und deshalb war es damals, als Haider in die Regierung kam, nicht das wirkliche Problem, dass seine Partei, die so offen rassistisch und antisemitisch war, ins Parlament kam. Der wirkliche Skandal war, dass eine demokratische Partei wie die ÖVP sich von ihm zum Kanzler hat wählen lassen. Wenn die Mehrheit versagt, dann ist es Zeit, Alarm zu schlagen.

AM: Thema Antisemitismus. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten eine heftige Debatte im European Jewish Congress, bei der man sich die Frage stellt: Haben Juden in Europa angesichts des wieder erstarkten Antisemitismus eine Zukunft? 

MF: Ich bin unheimlich überrascht, wie überrascht der EJC ist. Was ist an der jetzigen Situation neu? Was ist denn da gewachsen? Das Phänomen ist weder neu noch gewachsen. Es gab und gibt Enthemmungsmomente in der europäischen Geschichte, die immer wieder, in Wellen über uns einbrechen. Wir haben in Europa derzeit eine Identitätskrise, die übrigens nicht alleine aus der Eurokrise resultiert. Und ich will es jetzt aus einer optimistischen Sicht schildern. Dieser Kontinent erlebte über Jahrhunderte Bürgerkriege, Regionalkriege, im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege und den zivilisatorischen Gau der Judenvernichtung. Der Holocaust wurde zwar von den Deutschen erfunden, aber von Europa unter dem Motto „die Juden sollte man mal wieder zurechtstutzen“ mitgetragen. Denn der Antisemitismus ist keine deutsche, sondern eine christliche Erfindung. Auschwitz ist eine deutsche Erfindung.

Dieser Kontinent also mit all den Wunden entscheidet sich irgendwann, einen anderen Weg zu gehen, einen zivilisatorischen, supranationalen Weg. Diese Idee, diese Entscheidung ist erst einige Jahrzehnte jung. An dieser Idee partizipieren in den letzten zehn, 15 Jahren immer mehr. Viele der heutigen
Unionsmitglieder hatten eine diktatorische Vergangenheit, wie das ehemalige Franco-Regime; auch jene, die jetzt aus Osteuropa beigetreten sind, haben erst eine sehr junge demokratische Tradition. In vielen dieser Länder stellt sich die Frage, ob man versteht und verstanden hat, dass Multikulturalität ein gewinnbringendes Moment ist, nicht
eines, das Angst machen soll, sondern bereichernd ist.

Wenn wir uns die Euro- und Armutskrise vor hundert Jahren vorstellen – was wäre passiert? Krieg. Es ist deshalb schon ein unglaublicher Weg, den wir Europäer gegangen sind. Probleme, die national vorhanden sind, versucht die Politik auf Kosten von Minderheiten abzuwehren – sucht sich Sündenböcke, um vom eigenen Fehlverhalten abzulenken. Dagegen müsste sich eine Koalition aus Gleichgesinnten stellen, aus Menschen, die sagen, in einer Straße, in einer Stadt, in der ein Rassist unterwegs ist, will ich nicht leben. In der Tat ist die Reaktionsfähigkeit der Makroorganismen nach wie vor nicht beruhigend.

AM: Es hatten also Menschen wie Ignaz Bubis, ehemaliger Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, am Ende ihres Lebens doch Recht, als sie meinten, mit ihren Visionen, dem Antisemitismus und Rassismus in Europa den Garaus zu machen, Unrecht gehabt zu haben.

MF: Den Antisemiten zu überzeugen, dass er nicht Recht hat, ist ein gedanklicher Fehler. Ich kann nicht mit einem Antisemiten oder Rassisten argumentieren. Er sagt, die Juden sind furchtbar. Ich antworte: Aber ich bin Jude und wir sind trotzdem seit zehn Jahren befreundet.

AM: „Ja, aber du bist doch eine Ausnahme!“, sagt dann der Antisemit.

MF: Und er sagt, die Juden sind alle reich, und ich bringe ihm die Statistik meiner Gemeinde, deiner Gemeinde, dass wir Sozialhilfeempfänger haben. Was sagt er darauf? Diese Statistik ist gefälscht. Wer sich also in diese Falle begibt, sich vorzunehmen, Rassisten und Antisemiten zu bekämpfen, muss in einer tiefen Lebensfrustration enden. Mein Ziel war immer, dass es keinen neuen Rassisten, keinen neuen Antisemiten gibt – und dass die Gesellschaft dabei auf meiner Seite ist. Ich habe in diesen Jahren einige Situationen erlebt, in denen wir gescheitert sind. Aber das entmutigt mich nicht, mein Ziel weiterzuverfolgen.

AM: Ich möchte noch zum Thema Israel kommen. Wir haben beide entschieden, nicht nach Israel zu gehen …

MF: Nein, du hast entschieden, du gehst nicht nach Israel. Ich habe mir die Frage gar nicht gestellt. Für mich war das nie eine Option. Aber ich war trotzdem immer extrem engagiert in der Frage des Nahen Ostens.

AM: Wie gehen wir aber mit der so genannten doppelten Loyalität um, die man uns vorwirft, weil wir zu Themen Israels Stellung nehmen?

MF: Ich erlebe in meinem Leben dauernd doppelte Loyalitäten. Ich bin Frankfurter, ich bin Deutscher, ich bin Franzose aus Paris, ich bin auch ein bisschen polnisch. Ich bin ein Mann. Ich bin jemand, der gerne denkt. Ich bin ein sehr sinnlicher Mensch. Ich bin Jude. Auch Jude! Ich habe so viele Identitäten, die in mir permanent streiten und in den Jahren ganz unterschiedliche Wertungen hatten. Wer mich zu hundert Prozent haben möchte, versucht mich eindimensional zu begreifen. Ich habe keine doppelte Loyalität, ich habe unterschiedliche Identitäten, die ich versuche, in Einklang zu bringen.

Israel ist für mich, und das war immer mein Zugang, ein Land – dazu muss ich nicht Jude sein –, das ich unterstützen soll: weil es eine Demokratie ist; weil es ein Land ist, in dem eine von der Mehrheit getragene Multikulturalität gewollt und gelebt wird. Es ist ein Land von hoher Bildung; es ist ein Land mit einem sehr hohen, sozial kompetenten und empathischen Gesellschaftsbild, das finde ich als Mensch sehr sympathisch. Deshalb mag ich auch Amerika. Ich kann mich identifizieren. Und dann kann ich auch selbstbewusst kritisieren, was mir an den Regierungen dort nicht gefällt. Ich glaube, dass jeder Demokrat ein Interesse daran hat, dass Israel prosperiert und unterstützt wird. Und jene europäischen Regierungen, die ihre Moralphilosophie auf Israel transferieren, sollten zunächst vor der eigenen Haustür kehren. Und wenn sie sich dann auch abschaffen wollen, so sollen sie bei sich selbst beginnen und nicht bei Israel.

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AM: Darf ich zur Tagespolitik und Syrien kommen. Kommt es zu einem amerikanischen Schlag? Zu einem syrischen oder iranischen Gegenschlag? Man ist ununterbrochen damit konfrontiert, dass es Länder gibt, die bereit sind, Massenvernichtungswaffen zu verwenden. Wie gehen wir damit um?

MF: Wer sind wir?

AM: Wir Juden. Wir Juden natürlich.

MF: Das ist eine sehr schwierige Thematik. Syrien ist der letzte Stützpunkt Russlands, und ein wenig auch Chinas, um im Nahen Osten und der arabischen Welt Player zu sein. Daher hatte Russland ein weltpolitisches Interesse, Syrien und das Assad-Regime zu schützen, um der restlichen arabischen Welt zu zeigen, wer unter unserem Protektorat ist, der überlebt sogar die Amerikaner. Der zweite Punkt ist: Das Assad-Regime ist in den Augen des Westens, teilweise auch Israels, das kleinere Übel gewesen im Verhältnis zu islamistischen oder radikal-islamischen Regierungsrepräsentanten. Es wurde, wenn man von einer Intervention spricht, zu lange gewartet. Die Aufständischen vom Anfang sind heute nicht mehr die Aufständischen, sondern eine unkontrollierbare Gruppe von Söldnern, Terroristen, bezahlt von wem auch immer auf dieser Welt. Die internationale Gemeinschaft steht vor einem unheimlichen Problem. Der Tabubruch, chemische Waffen zu benutzen, ist im Selbstverständnis der Weltgemeinschaft ein Vorgehen, das sanktioniert werden muss, weil es etwas mit der Glaubwürdigkeit der eigenen Regeln zu tun hat. Meiner Meinung nach war es jedoch ein diplomatischer Fehler zu deklarieren, wo die rote Linie ist – denn damit entsteht ein Zugzwang.

AM: Du meinst damit Obama.

MF: Es war Obama, aber andere auch. Jeder kluge Politiker weiß, red’ nicht, handle. Ich glaube aber auch, dass Obama den militärischen Interventionsmoment genutzt hätte, wenn ihm nicht sein Verbündeter England weggefallen wäre. Auch wenn nun die Giftgasbestände analysiert werden, werden wir das Thema wieder haben. Oder nicht mehr haben, weil Amerika und der Präsident und die Amerikaner sich sagen, F…, warum sollen wir als Amerikaner immer alles alleine tun. Ihr Europäer, die ihr den ganzen Tag etwas von Menschenrechten erzählt, aber nicht bereit seid, dafür zu kämpfen. Es stellt sich die Frage, was es bedeutet, wenn Obama entscheidet, nicht einzugreifen. Wer sich auf Europa verlässt, ist so verlassen, wie man nur verlassen sein kann.

ZUR PERSON

Michel Friedman, geb. 1956 in Paris; 1965 übersiedelte die Familie nach Deutschland. Friedman studierte Jus, arbeitet als Anwalt, aber auch als Kolumnist, Fernsehmoderator. Seine Heimat als Politiker ist die CDU. Von 2000 bis 2003 war er stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und von 2001 bis 2003 Präsident des European Jewish Congress. 2000 gründete er gemeinsam mit Uwe-Karsten Heye und Paul Spiegel den Verein Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland. Friedman ist mit der Fernsehmoderatorin Bärbel Schäfer verheiratet und Vater zweier Söhne.

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