
Michel Friedman war im September in Wien. Er kam auf Einladung des Ehrenpräsidenten Ariel Muzicant und sprach mit diesem in der Seitenstettengasse über ihre gemeinsame politische Vergangenheit, über den Kampf gegen Schwarz-Blau, über Antisemitismus in Europa und über den Nahostkonflikt. Eine Dokumentation von Alexia Weiss.
Ariel Muzicant: Wir entstammen beide der zweiten Generation. Unsere Eltern haben die Schoa überlebt, deine Eltern von Schindler gerettet, mein Vater, meine Mutter, meine Schwiegereltern im KZ, im Arbeitslager – wir sind mit diesem Rucksack zur Welt gekommen. Du bist jemand, der für uns meinungsbildend war in deinem Kampf als Journalist, als Moderator, als Buchautor, als jüdischer Mensch. Wie lebt man mit diesem Rucksack, und wie lebt man in Deutschland oder Österreich mit dieser Geschichte?
Michel Friedman: Wie man lebt, kann man nicht sagen.
AM: Hat mich schon (lacht).
MF: Ich will das gar nicht kritisch gesagt haben. Wenn man über jüdische Identität spricht, muss man sich mehr und mehr angewöhnen, die Individualität zu betonen und nicht immer das Kollektiv. Unsere Biografien haben Schnittstellen, trotzdem sind sie unterschiedlich. Ich hatte eine Zwischenstation. Ich wurde in Paris geboren, das war eine ganz wesentliche Zwischenstelle. Zwar auch im Kreis der Überlebenden aus der polnischen Community, aber dort war es anders, als wenn ich in Wien oder Berlin mit meinen Eltern aufgewachsen wäre.
Bei uns zu Hause gab es eine Mutter seligen Angedenkens, die tief geprägt war vom Gefühl der Angst. Meine Mutter war 16, als sie ins Ghetto kam, und das erste Gefühl neben der Liebe, das ich kennen gelernt habe, war Angst. Mein Vater seligen Angedenkens war ein Mann, der versucht hat, sein Leben so zu reorganisieren, dass auch Anteile wie Freude und Glück eine Chance haben. Aber sehr erfolgreich war das auch nicht. Interessant war meine Großmutter, 1897 in Krakau geboren, die besser Deutsch und Französisch sprach als ich. Diese Großmama fand ich faszinierend, auch als Gegenmodell zu meinen Eltern. Da sie viel älter als diese in die Vernichtungserlebniswelt verbannt wurde, besaß sie bereits mehr positives Gepäck und schöpfte daraus ein starkes Selbstbewusstsein. Sie wirkte, obwohl sie in dieser mörderischen Zeit alle außer meiner Mutter verloren hatte, wesentlich stabiler auf mich als meine Eltern. Aus mir entstand ein Mischmasch aus vielen dieser Eindrücke.
Ich hatte keine jüdische Sozialisation im Sinn von jüdischem Kindergarten, Schule. Und meine Mutter war letztendlich nach der Schoa eher Atheistin. Mein Vater war jemand, der, wenn ich ihn zu Rosch HaSchana, Jom Kippur in die Synagoge begleitete, für wenige Stunden ins Schtetl zurückkehrte. Als wir dann nach Deutschland kamen, fing ich bereits im nichtjüdischen Makrokosmos meiner Schule an, mich zu engagieren und wurde zum Klassensprecher. Ich hatte immer das Bedürfnis, mich bei Fragen der Gerechtigkeit einzumischen. Und da ich zu Hause immer schon so viel gesprochen hatte, fand ich auch die richtigen Worte. Damit fing meine politische Arbeit an. In der Bundesrepublik gab es damals viele Spuren einer nicht ernsthaft umgesetzten Bewältigung der Nazideutschlandzeit. Lehrer, die einst Kinder ganz bewusst der Gestapo überlassen haben; Polizisten, Richter, sämtliche Gesellschaftsschichten waren noch verseucht. Ich erinnere mich, dass ich einen Chemielehrer hatte, der einen verstümmelten Finger hatte und der seine Stunde stets mit den Worten eröffnete, diesen Finger habe ich an Hitler verloren, und ich bin stolz darauf. Wir waren im Jahr 1964, ’65, ’70, und ich fand das unerträglich. Als Klassensprecher bin ich zum Direktor gegangen und habe mich beschwert.
Wesentlich für meine Prägung war auch zu erleben, wie meine Eltern sich in ihrem Umfeld verhalten haben. Anstatt selbstbewusst und mit Selbstrespekt nach innen und außen aufzutreten, wenn die NPD in Baden-Württemberg plötzlich zehn Prozent bekam, wenn Geschäftsleute unerträgliche jüdische Witze machten; in diesen Situationen zu erleben, wie ungeschützt meine Eltern waren – ich hatte dabei das Gefühl, sie schützen zu müssen. Das führte dazu, dass ich mich langsam auch in der jüdischen Gemeinschaft, die damals nur aus Überlebenden bestand, zu engagieren begann.
Ich habe mich also immer im Makrokosmos der deutschen und im Mikrokosmos der jüdischen Gesellschaft engagiert und schöpfte daraus meine Überzeugung, dass man sich, wenn die Gesamtgesellschaft mit ihren Minderheiten respektvoll umgeht, nicht sorgen muss.
AM: Du hast mir einmal gesagt, dich interessieren die Antisemiten im Grunde genommen nicht, und hast in einer Diskussion vor zehn, 15 Jahren mir gegenüber gemeint: „Was stellst du dich hin mit den Antisemiten, lass sie sein, was sie sind.“