Israels besondere Soldaten – und ihre außergewöhnlichen Talente

Wurden bis vor einem Jahrzehnt nur diejenigen zu IDF eingezogen, die körperlich zu 100 Prozent leistungsfähig waren, so können Menschen mit besonderen Bedürfnissen heute sogar in Eliteeinheiten dienen.

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„Wir haben die Koordinaten jeder einzelnen Rakete und Drohne sofort ausfindig machen können, auch wenn es viele waren. Der iranische Angriff war ein Sieg für Israel.“
Nadav Graubart

Während des beispiellosen iranischen Angriffs auf Israel in der Nacht zum Sonntag, dem 14. April, feuerte die Islamische Republik Drohnen und Raketen auf den jüdischen Staat ab. Damit griff das Mullah-Regime erstmals seinen Erzfeind direkt von seinem Staatsgebiet aus an. In vielen Teilen Israels heulten die Sirenen. Selbst über dem Himmel Jerusalems waren Leuchtstreifen zu sehen und die Explosion abgefangener Raketen zu hören. Die Menschen wurden im gesamten Staatsgebiet aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen. Die iranische Offensive verfehlte ihr Ziel. Dank der herausragenden Luftabwehr der israelischen Streitkräfte (IDF) und der Hilfe befreundeter Staaten – u. a. die USA und selbst Jordanien – konnte der Angriff abgefangen werden. Eine Offensive ohne Sieg. Von rund 300 ballistischen Raketen und Drohnen wurden 99 Prozent abgefangen. Um diese schnell zu lokalisieren, braucht es auch einen gut funktionierenden Militärgeheimdienst, bei dem oft nicht ganz gewöhnliche Soldaten dienen.

„Unsere Einheit hat ganze Arbeit geleistet“, erklärt der 20-jährige Nadav Graubart (Name aus Sicherheitsgründen geändert), Hauptmann in der Eliteeinheit 9900. „Wir haben die Koordinaten jeder einzelnen Rakete und Drohne sofort ausfindig machen können, auch wenn es viele waren. Der iranische Angriff war ein Sieg für Israel.“

„Unser Augenmerk liegt auf den Fähigkeiten und nicht der Behinderung jedes Einzelnen.“

Tiran Attia

Graubart wurde mit Autismus diagnostiziert. Mit weiteren Soldaten der elektronischen Aufklärung dient der junge Offizier im Hauptquartier der IDF in Tel Aviv. Sein durch seinen Autismus bedingtes fotografisches Gedächtnis und seine Detailverliebtheit kommen ihm dabei zugute. In der oberen Etage eines streng bewachten Gebäudes, am Ende einer engen Halle, starrt er auf seine beiden Computermonitore. Luftaufnahmen der Landesgrenzen flackern auf den Bildschirmen. Die Eliteeinheit führt visuelle Analysen durch, beobachtet eine sich ständig verändernde Kaskade Tausender von Satellitenbildern und sucht nach den geringsten Anzeichen feindlicher Aktivität.

Noch vor einigen Jahren wäre er wegen seiner Krankheit nicht eingezogen worden. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres müssen zwar die meisten israelischen Männer und Frauen für drei oder zwei Jahre ihren Wehrdienst leisten. Doch aus religiösen, ideologischen und gesundheitlichen Gründen werden Jugendliche meistens befreit. „Mein Vater ist Berufssoldat, diesen Weg wollte ich auch gehen“, sagt Graubart.

„Aufgrund meiner Krankheit rechnete ich mir aber keine Chancen aus. Doch seit einigen Jahren gibt es die Möglichkeit, trotz geistiger oder körperlicher Einschränkung bei der IDF zu dienen. Meine Tätigkeit erfordert viel Verantwortung und gibt mir die Gelegenheit, in einer bedeutenden Position in der Armee zu arbeiten, in der ich das Gefühl habe, einen wichtigen Beitrag zu leisten.“

Nadav Graubart

Möglich gemacht hat seinen Einsatz die vom ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Tal Vardi gegründete Organisation Ro’im Rachok (In die Ferne schauen). Dieses Programm integriert Autisten in die israelische Armee und bildet sie dort zu hochqualifizierten Analysten aus. „Knapp 2.000 Bewerber nehmen jährlich an dem Programm teil“, erzählt Tiran Attia, Oberstleutnant der Reserve und Präsidiumsmitglied von Ro’im Rachok. „Zunächst absolvieren sie eine dreimonatige Schulung am Ono Academic College außerhalb von Tel Aviv, bei der sie ihre Fähigkeiten testen und feststellen, ob sie überhaupt für ein System wie das der Armee geeignet sind. Danach dienen sie als zivile Soldaten für weitere drei Monate beim Militär.“

Maximale Leistung. Etwa 80 Prozent der jungen Bewerber werden jedes Jahr aufgenommen und in einem Evaluierungs- und Bewertungsprozess durch ein professionelles Team in die besten Geheimdiensteinheiten eingeteilt, ehe sie danach offiziell ihren Wehrdienst antreten.

„Der Militärdienst ist ein wesentlicher Bestandteil des israelischen Lebens“, sagt Attia. „Diese besonderen Soldaten sind stark motiviert und investieren ihre maximalen Fähigkeiten in der Armee.“ Er erklärt, dass sich nicht alle Rekruten mit geistiger oder körperlicher Behinderung für das Programm qualifizieren. Manche zeigen plötzlich Ängste. Vor allem Menschen im Autismusspektrum, die oft perfektionistisch arbeiten. „Ein Großteil ihres Erfolges hängt auch von der Toleranz ihres Umfelds ab. Berufliche Schwierigkeiten bringen häufig auch emotionale Prob-leme mit sich.“

Damit neben Autisten auch junge Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen in die Armee und damit in die israelische Gesellschaft integriert werden, gründete der 57-jährige Militärexperte zusammen mit dem Reserveoffizier Ariel Almog 2014 das Projekt Special in Uniform (SIU). Die beiden arbeiten dabei mit dem Kindermuseum des Kibbuz Lochamej haGeta’ot (Ghettokämpfer) und dem Jüdischen Nationalfonds in Jerusalem zusammen.

„Das Projekt baut erfolgreich gesellschaftliche Barrieren ab“, sagt Oberstleutnant Attia. Er sieht die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen wie Kinderlähmung, Erblindung, Schizophrenie oder Down-Syndrom in der Armee als einen Weg, ihnen zu einem autarken Leben zu verhelfen. „Diese Soldaten, egal ob Jude, Araber oder Druse, beweisen täglich, was junge Menschen mit seelischen oder physischen Einschränkungen zu leisten imstande sind“, betont er. „Unser Augenmerk liegt auf den Fähigkeiten und nicht der Behinderung jedes Einzelnen. Dadurch werden Unabhängigkeit und Integration in die Gesellschaft gefördert.“

Das Projekt umfasst zurzeit 925 Rekruten, verteilt auf 50 Kasernen des Landes. Ziel ist es, dass jeder sein volles Potenzial ausschöpft. Deshalb konzentriert sich das Programm auf die einzigartigen Talente dieser „besonderen Soldaten“.

Auch hilft es ihnen, gemäß ihrer Fähigkeiten eine ideale Tätigkeit innerhalb der Armee zu finden. Viele waren lange soziale Außenseiter und werden deshalb von Psychologen betreut, um ihnen beim Umgang mit ihren Offizieren und Kollegen zu helfen. Im Gegensatz zu den meisten Soldaten, die fast drei Jahre dienen, haben diese besonderen Soldatinnen und Soldaten zunächst eine freiwillige Militärzeit von einem Jahr. Sie können jedoch ihren Wehrdienst verlängern und sich für weitere zwei Jahre melden.

Unterstützung auch nach der Armeezeit. Wie die 21-jährige Adi Yehuda vom Musikkorps der SIU: „Teil der Kapelle Great in Uniform zu sein, hat mich zur besten Version meiner selbst gemacht“, strahlt die Sängerin. „Ich fühle mich auf der Bühne sehr wohl und liebe die Musik, die Bühne und die Freunde in der Einheit. Ich bin so dankbar, in dieser Band zu sein, mit der wir sogar schon vor dem Präsidenten, dem Premierminister und dem Stabschef aufgetreten sind.“

Als Hauptmotivation nennt Yehuda, die mit einer kognitiven Einschränkung auf die Welt kam, es dem Publikum zu zeigen, dass sie keine Scheu vor ihrer Behinderung hat. Sie möchte als gleichberechtigter Teil in der Armee anerkannt sein. Mittlerweile hat die Kapelle schon zahlreiche Länder rund um den Globus bereist. So trat sie u. a. in Mexiko und auch in Brasilien während des berühmten Karnevals auf. Mit Ausbruch des Gazakrieges nach dem Hamas-Angriff auf Israel und dem brutalen Massaker am 7. Oktober 2023 tourt die Band landesweit zwischen IDF-Stützpunkten, Hotels und Krankenhäusern.

„Seit Beginn des Waffengangs spielen wir für die vom Norden und Süden evakuierten Bürger“, erzählt Adi Yehuda. „Aber wir treten auch vor Kampfeinheiten auf und manchmal sogar vor verwundeten Soldaten. Unser Ziel ist, Menschen glücklich zu machen und die Moral zu steigern. Wir fliegen auch bald nach Miami, um für die Menschen dort zu singen, die uns viel gespendet und unterstützen haben.“

Die besonderen Soldaten der IDF glauben an das Recht jedes und jeder einzelnen, ihren Beitrag leisten zu können, und hoffen dadurch eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Während des Wehrdienstes ist ihre Behinderung nie ein Thema für sie. Und sie sind dankbar, einen interessanten Job zu lernen und gleichzeitig Lebenserfahrung zu sammeln.

„Alle werden hier gleich behandelt, und durch meine Tätigkeit bin ich selbstsicherer geworden“, erzählt der Autist Nadav Graubart von der Eliteeinheit 9900. „Als Hauptmann bei der Luftabwehr hat man viel Verantwortung. Soldat zu sein, bedeutet, Herausforderungen anzunehmen und im Job zu wachsen.“

Ro’im Rachok und Special in Uniform beraten die Soldatinnen und Soldaten auch nach deren Armeezeit. So auch den jungen Offizier Graubart. Nach intensiven Gesprächen hat er sich für eine Berufslaufbahn bei der IDF entschieden und wird nächstes Jahr parallel dazu Politik studieren. Sein Ziel ist ganz klar: „Ich möchte später einmal Kommandeur meiner Einheit werden.“

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