Das Grauen in ein Lexikon packen

„BLOKIRN. ‚Die Lebensmittelkarten blockieren.‘ – Das Stoppen der Herausgabe von Lebensmitteln [...] auch das der Karten. Mithilfe spezieller Korrespondenzbögen werden die Lebensmittelgeschäfte darüber verständigt, welche Kartennummern blockiert werden. Blockiert wird in verschiedenen Fällen, wie: Deportation, Tod, Strafangelegenheiten und dergleichen.“

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Fließend. Übergang über eine Durchfahrtsstraße, die Hohensteiner Straße, um 1942. © Bundesarchiv/Holtfreter Wilhelm

1943 bestand das Getto in Łódź (Litzmannstadt) bereits seit mehr als drei Jahren. Die Restriktionen wurden immer enger, das Überleben wurde immer schwerer, Zehntausende waren zu diesem Zeitpunkt schon verstorben. Der Schriftsteller und Journalist Oskar Rosenfeld fand drastische Worte für den Ort: Er sei der „Krepierwinkel Europas“.
Was dann passierte, zeigt, wie Menschen in scheinbar unaushaltbaren Situationen Strategien entwickeln können, mit diesen Zuständen umzugehen. Im Getto Łódź beschlossen sie, in einer Enzyklopädie ihre Erfahrungen weiterzugeben. Rosenfeld, der 1944 vermutlich im KZ Auschwitz ermordet wurde, sprach von einer „lexikalen Kulturgeschichte des Gettos Litzmannstadt“.
Der Wallstein Verlag hat Die Enzyklopädie des Gettos Łódź | Litzmannstadt nun in Buchform herausgebracht. Sie enthält deutschsprachige, polnische und jiddische Einträge, in denen Begriffe erklärt werden, die im Getto zum Alltag gehörten, und stellt verschiedene Personen und ihre Funktionen vor.

Dominika Bopp, Sascha Feuchert, Andrea Löw, Jörg Riecke, Markus Roth u. Elisabeth Turvold (Hg.): Die Enzyklopädie des Gettos Lodz | Litzmannstadt. Wallstein 2020, 480 S., € 35

„Das Zusammenleben einer Gruppe von Menschen unter einem äußeren Zwang ohne den bewussten Willen, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden, brachte mit der Zeit Formen, die eben nur auf dem Boden des Gettos möglich waren“, schrieb Rosenfeld. Der Alltag habe gewisse Normen des Arbeitens und Existierens erfordert. „Er schuf sich seine Struktur, seine Sprache, seine Terminologie. Nirgends in der Welt gab es eine Gemeinschaft von Menschen, die mit der des Gettos verglichen werden könnte.“
Die Veränderung der sozialen, geistigen und ökonomischen Funktionen habe auch eine Veränderung der meisten Begriffe zur Folge gehabt, so Rosenfeld weiter. „Begriffe, die bisher überall unter europäischen Menschen ihren eindeutigen Sinn hatten, unterlagen einer völligen Wandlung. Sie mussten sich den Bedingungen anpassen, die im Getto ihre Geltung bekommen hatten. Sobald die Freiheit der Bewegung, des äußeren Tuns verloren gegangen war, konnte auch das Wort, das Sprichwort, die Sentenz nicht mehr im bisherigen Sinne angewendet werden. Der Wandel der Lebensformen erzwang den Wandel der Begriffsformen.“
Beim Schmökern in dieser ganz speziellen Enzyklopädie überrascht nicht nur die Klarheit, mit der Rosenfeld das, was hier passierte, ohne die zeitliche Distanz, die wir heute so viele Jahrzehnte später innehaben, beschrieb. Es fasziniert auch die Art und Weise, wie hier versucht wurde, den Gettoalltag einzufangen. Ein Beispiel ist hier der Eintrag „Getto-Neues“. Da heißt es: „Ein Begriff, der den Inhalt alles dessen umreißen will, was sich nicht draußen in der Welt, sondern im Rahmen des Gettolebens abspielt. ‚Was gibt es Getto-Neues?‘ – war die stereotype Frage, die ein Getto-Bewohner an den anderen bei jeder gewollten oder zufälligen Begegnung richtete. Zu dem Getto-Neuen gehörten nicht nur Tatsachen, die der einzelne aus seinem Bereich zu erzählen hatte, sondern auch – und dies zumeist – Gerüchte, welche mangels authentischer Mitteilungen durch das Getto getragen wurden.“

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