Elend und Kampf

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Die Fotografin Edith Tudor-Hart dokumentierte mit großer Empathie das Arbeiterleid in Wien und in England. Ihr politisches Engagement hielt sie im Dunkeln – als Spionin für den sowjetischen Geheimdienst. Von Reinhard Engel

 

Jahrelang waren ihr die englischen Agenten des Special Branch und des MI5 auf den Fersen, observierten und befragten sie. Doch zu einem anklagefähigen Dossier sollte es nie reichen: „Es gibt, abgesehen von ihren eigenen Geständnissen, keine sicheren Beweise für Edith Tudor-Harts Tätigkeit für den russischen Geheimdienst, sei es in Österreich oder im Vereinigten Königreich“, hieß es in einem MI5-Bericht aus dem Jahr 1951, als gerade die ersten Top-Spione der „Cambridge Five“ aufflogen. „Aber es besteht die Möglichkeit, dass sie während der Kriegsjahre eine Kontaktperson des russischen Geheimdienstes, möglicherweise auch eine Talentesucherin oder eine Verbindungsfrau und Mittlerin zwischen der britischen Kommunistischen Partei und der österreichischen Kommunistischen Partei im Exil war.“

 Wiener Sozialisten-Familie

Die Verdächtigte nahm die Nachforschungen gegen sich jedenfalls ernst und vernichtete beinahe ihr gesamtes Fotomaterial inklusive Negative, wohl um niemanden zu belasten. Doch das liegt ebenso im Dunklen, Unklaren wie so vieles andere im Leben der großen Fotografin, der das Museum der Stadt Wien derzeit eine Einzelausstellung widmet. Geboren wurde sie 1908 als Edith Suschitzky in eine areligiöse jüdische Wiener Sozialisten-Familie. Ihr Vater betrieb in Favoriten eine linke Buchhandlung und einen kleinen Verlag. Edith arbeitete als Kindergärtnerin in der Montessori-Bewegung, die damals Teil des sozialistischen Bildungswesens war, politisch rückte sie weiter nach links, zu den Kommunisten. In den Jahren 1928 bis 1930 studierte sie am Dessauer Bauhaus, doch sind dort kaum Unterlagen darüber zu finden, was genau, außer dass sie sich für den so genannten Vorkurs eingeschrieben hatte. In der Fotografieklasse findet sich ihr Name nicht.

Und doch erscheinen bald darauf in verschiedenen Wiener Zeitungen und Zeitschriften ihre Fotos: in Der Kuckuck, in der Arbeiter Illustrierte Zeitung und in Die Woche. Es waren erst bravere Reportagen über Erfolge sozialistischer Sozialpolitik, aber schon bald dokumentierte sie das nackte Arbeiterelend: Arbeitslosendemonstrationen, Bewohner favelaartiger Blechhütten in Wien, Kriegsversehrte beim Betteln. Nur wenige Bilder treten mit einer gewagten Form auf (auch wenn sie diese beherrscht), aber trotz konservativer Gestaltung zeigen sie ein scharfes, mitfühlendes Auge und stets eine perfekte Komposition.

Suschitzky muss schon damals für die in Österreich eher unbedeutende KP als Kurierin rekrutiert worden sein. 1933 wurde sie auch einmal in einer Buchhandlung auf frischer Tat ertappt und verhaftet. Sie heiratete den englischen Kommunisten Alex Tudor-Hart, der hier bei Lorenz Böhler Chirurgie studierte, und folgte ihm nach England. Dort dürfte sie weiter geheim für die Kommunisten aktiv gewesen sein, setzte aber gleichzeitig ihre Sozialreportagen fort: in Wales, wo ihr Mann als Arzt arbeitete, später im nordenglischen Industriegebiet.

Doch sie schaffte es nie in die Mainstream-Presse der Fleet Street – oder wollte es auch nicht. Ihre Bilder erschienen in eher kleinen Zeitschriften, daneben schlug sie sich mit Modefotos und einem Portraitstudio durch. Später gab sie ihren Beruf ganz auf und verbrachte ihre letzten Lebensjahre als Antiquitätenhändlerin im süd­englischen Brighton.

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