Das Drama geht in die Pause

Das Land ist zweigeteilt, doch weniger entlang ethnischer, oder religiöser Grenzen wie das gerne propagiert wird. Vielmehr entlang der Frage: vorwärts oder rückwärts?

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Konfrontation oder Neuordnung. Die Zweiteilung der israelischen Gesellschaft wird immer dramatischer. © JACK GUEZ / AFP / picturedesk.com

Das Parlament macht jetzt erst einmal bis Ende April Pause. Es gibt also zumindest eine Weile keine nervenraubenden Sitzungen mehr, keine Abstimmungen und auch keine Fernsehberichte darüber. Das Land bleibt trotzdem gespalten. In vielen Familien wird man die Politik als Thema an den Feiertagen umgehen, manche haben deshalb beschlossen, sich diesmal gar nicht zu treffen. In großartiger Stimmung ist ohnehin niemand. Selbst die Werbespots für Geschenke in Rundfunk und Fernsehen klingen verhaltener als sonst.

Aber die Auszeit tut gut, wenigstens zum Durch-, wenn auch nicht zum Aufatmen. Einen Monat lang dauert die Auszeit, danach wird man weitersehen. Prognosen will keiner abgeben. Treibt die Koalition dann ihre Justizreform einfach weiter voran, ungeachtet aller Gegenproteste? Birgt das zeitliche Zusammenfallen von Pessach und Ramadan diesmal ein noch größeres Gefahrenpotenzial im Umgang mit dem Tempelberg? Oder sind sich bis zur nächsten Knesset-Sitzung Regierung und Opposition doch nähergekommen bei den Verhandlungen über einen Kompromiss im Haus des Präsidenten? Gibt es eine Chance, sich am Ende so noch auf eine Große Koalition zu einigen, längerfristig ja vielleicht sogar auf eine Verfassung?

 

Aus der Debatte um die umstrittene Justizreform ist längst ein Kampf um die künftige Ausrichtung des Landes geworden.

 

Die Demonstrationen gegen die Justizreform aber gehen unterdessen weiter. Glaubt man den Protestierenden, will die politisch extremste und moralisch korrupteste Koalition in der Geschichte des Landes die Gewaltenteilung aushebeln, um ungehindert ihre Agenda durchzusetzen. Meinungsund Oppositionsfreiheit wird es dann schon bald nicht mehr geben. Der Minister für nationale Sicherheit nennt die Menschen, die seit dreizehn Wochen jeden Samstagabend auf die Straße gehen, eine „Gang privilegierter Anarchisten, die nicht akzeptieren wollen, dass sie die Wahlen haushoch verloren haben“. Anarchisten gegen Extremisten. Der Graben ist tief. Inzwischen gibt es auch Aufrufe zu Gegendemonstrationen.

Aus der Debatte um die umstrittene Justizreform ist längst ein Kampf um die künftige Ausrichtung des Landes geworden. Gesellschaftliche Bruchlinien, die immer da waren, treten jetzt mit aller Wucht zu Tage. Die Koalitionspartner von Benjamin Netanjahu haben eine Vision von der Gesellschaft, die von den jüdisch-demokratischen Werten der Staatsgründer dramatisch abweicht. Die radikalen Rechten haben einen Nationalismus entwickelt, der nicht nur einen palästinensischen Staat völlig ablehnt, sondern auch in jedem israelischen Araber einen potenziellen Feind sieht. Die Ultrareligiösen im Parlament wollen mehr Religion im Alltag, keine Wehrpflicht, am liebsten nur Talmud und Thora an ihren eigenen Schulen statt Mathematik, Physik oder Sprachen, und dafür mehr Subventionen für ihre Zöglinge.

Dabei umfasst das Protestlager in Wirklichkeit eine viel breitere Palette. Dazu gehören auch orientalische Juden, russisch-sprachige Einwanderer, konservative Rechte und moderate Religiöse.

 

Doch diese Vision hat ihren Preis. Wer soll sie schultern? Die Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, sind die überwiegend säkulare Mittelschicht, die sich schon länger über die ungerechte Verteilung der Bürden aufregt. Und der jetzt der Kragen platzt. „Ich gehöre zur neuen Spezies von Anarchisten: Ich arbeite viel, zahle Steuern und bin für den Rechtsstaat“, steht auf dem Plakat eines jungen Mannes, der seit Wochen demonstrieren geht. „Wir halten den ganzen Laden mit unseren Beiträgen doch überwiegend am Laufen“, formuliert es wütend ein 45-jähriger Familienvater, der als Softwareentwickler in einer High-Tech-Firma arbeitet und sich um die Zukunft seiner vier Kinder sorgt, „und jetzt müssen wir uns von Ministern beschimpfen lassen, die nicht in der Armee gedient haben, es aber als selbstverständlich sehen, dass wir unser Leben und das unserer Kinder riskieren, um sie zu schützen.“

Es geht um alle Bürden, auch die militärischen. Der Dienst in der Armee endet nicht mit der Pflichtwehrzeit. Die Reservisten leisten ihren Beitrag freiwillig. Sollte der Justizumbau nicht gestoppt werden, wollen inzwischen Hunderte von Reservesoldaten, darunter auch Piloten, nicht mehr an Übungen teilnehmen. Das Militär ist eng mit der Gesellschaft verwoben. Benjamin Netanjahu hätte das eigentlich wissen müssen, als er seinen Parteikollegen und Verteidigungsminister aus dem Amt warf, weil der einen Stopp der Justizreformen gefordert hatte, um die Streitkräfte zusammenzuhalten. Dass ein neuralgischer Punkt getroffen war, zeigte die massive Reaktion. Kaum war die Nachricht von der Entlassung durchgedrungen, dauerte es nur Minuten, bis die Menschen noch am selben Abend spontan auf die Straßen strömten. Danach robbte Netanjahu zurück, rief zur Pause auf.

Demokratie ist das Schlagwort der Protestbewegung. Aber auch das andere Lager hausiert damit. Man wolle, sagen die Befürworter, ja nur die richtige Balance zwischen den Staatsgewalten wiederherstellen. Außerdem agiere man im Namen der Wähler. Das Argument der Mehrheit offenbart die andere Bruchlinie, bei dem sich zwei weitere Lager gegenüber stehen: auf der einen Seite die orientalischen Juden, die sich über Generationen hinweg an den Rand gedrängt fühlten, auf der anderen die sogenannte europäisch geprägte Elite. Dieses Bild einer Schieflage wird von der Regierung weiter genährt: Obwohl wir längst die Mehrheit sind, will die andere Seite uns dennoch ihren Willen aufdrücken. Der Zorn auf den Obersten Gerichtshof – als Symbol der linken, säkularen, aschkenazischen Elite, die als wahre (nicht gewählte) Regierung herrscht – ist zum Glaubensbekenntnis geworden.

Dabei umfasst das Protestlager in Wirklichkeit eine viel breitere Palette. Dazu gehören auch orientalische Juden, russisch-sprachige Einwanderer, konservative Rechte und moderate Religiöse. Nach den jüngsten Umfragen würde der Likud von aktuell 32 auf 25 Sitze zurückfallen. Gäbe es jetzt Wahlen, hätte die Koalition nicht mehr genug Stimmen, um eine Regierung zu bilden.

Vier Wochen aber sind eine lange Zeit in Israel. Bis dahin wird sich zeigen, ob – kurz vor dem 75. Geburstag des Staates – die Zeichen weiter auf eine so nie dagewesene Konfrontation stehen oder es zu einer politischen Neuordnung komm

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