Jetzt also ist endlich das Ende in Sicht! Diese merkwürdige traumähnliche Existenz soll nun zu Ende gehen, und wir werden uns bald in der altbekannten Hektik wiederfinden, die wir alle Anfang März so schlagartig verlassen haben. Unsere Welt erwacht aus dem Schlaf und reibt sich langsam die Augen. Ob dieser ein Traum, oder ein Albtraum war, hängt unter anderem auch davon ab, ob alle, die uns am Herzen liegen, gesund geblieben sind. Ob wir noch eine Arbeit haben, wenn wir unsere vier Wände wieder verlassen. Ob unsere Beziehungen dem Eingesperrtsein standgehalten haben, oder wir der Einsamkeit die Stirn bieten konnten. Und natürlich gibt es ganz viele Faktoren, die wir gar nicht beeinflussen können und die erst mit dem Ende der Quarantäne so richtig sichtbar werden.
Wie wird sich die Wirtschaft, die unser aller Leben lenkt und beherrscht, entwickeln? Findet die europäische Politik Antworten auf die Rezession, und wird sie sich der Arbeitslosigkeit und der sozialen Ungleichheiten solidarisch annehmen? Wie können wir uns, pandemiegeschwächt, jenen Herausforderungen stellen, die bereits vor deren Ankunft im Raum standen, wie Klimawandel, Menschen auf der Flucht, antidemokratische Entwicklungen in einer ganzen Reihe von Ländern und andere gesellschaftliche und politische Krisen.
Wir alle sind nun auf der Suche nach Antworten auf jene unzähligen Fragen, auf die ein unsichtbarer Feind seine riesigen Scheinwerfer gerichtet hat. Als ersten Schritt wäre es ratsam, ein wenig Bilanz zuziehen und Notizen zu machen, um es in Zukunft vielleicht ein wenig besser – oder zumindest anders – zu machen. Hier einige meiner ganz persönlichen Quarantänebilanznotizen:
1. Menschen benehmen sich nicht gut, wenn sie Angst vor Mangel haben und glauben, dass ihnen demnächst das Klopapier ausgehen wird.
2. Wir sind nicht alle gleich: Im zehnstöckigen Plattenbau lebt sich die Quarantäne mit Kindern anders als in den bürgerlichen Wohnungen einer eleganten Innenstadt oder im dichtbewachsenen Garten eines Sommerdomizils.
3. Der Begriff „Doppelbelastung“ bei Frauen entspricht nicht ganz der Realität: Putzfrau, Köchin, Lehrerin, Mutter, liebende Partnerin und unermüdliche Arbeitskraft im „Homeoffice“ sind eindeutig mehr als zwei Rollen.
4. Menschen in den aktuell viel zitierten „Schlüsselberufen“, kann nicht genug gedankt werden: PflegerInnen, die sich tausende Kilometer entfernt von ihren eigenen Familien um unsere Eltern kümmern; LehrerInnen, die versuchen, unseren Kindern nicht nur Formeln und Jahreszahlen, sondern auch ein wenig Menschsein beizubringen; Wissenschaftler, die bei Weitem nicht nur in „Glashäusern“ forschen, sondern uns für eine virenreiche Zukunft wappnen; Mitarbeiter der Müllentsorgung, die uns auch jetzt pünktlich vor dem Anblick unserer achtlos produzierten Müllberge beschützen; ArzthelferInnen, Reinigungskräfte, Verkäuferlnnen, Lkw-Fahrer, Erntehelferlnnen, Bäuerinnen und unzählige andere Menschen, die uns unser wohlbehütetes, angenehmes, mitteleuropäisches Leben tagtäglich sichern. Eine entsprechende wirtschaftliche und soziale Anerkennung ist notwendig, die gesellschaftliche Anerkennung dieser Menschen ist unser aller Pflicht.
5. Nein, die Welt bricht nicht zusammen, wenn wir nicht perfekt sind. Der Zoom-Boom hat wohl viele Wahrheiten sichtbar gemacht. Unsere Wohnungen müssen nicht perfekt aufgeräumt, unsere Haare nicht perfekt frisiert und unsere Schreibtische nicht jenen im Ikea-Katalog gleichen, um gute Arbeit zu leisten. Entspannung und Entschleunigung stehen in keinem Gegensatz zur Leistungsfähigkeit, sondern sind vermutlich vielmehr ihre Voraussetzung. Entspannte Menschen sind glücklicher. Glückliche Menschen sind gesünder. Gesündere Menschen sind leistungsfähiger. Schon aufgrund dieser so einfachen Formel sollten wir alle unsere Work-Life-Balance unter die Lupe nehmen.
Weitere Notizen über glückliche Kinder und glückliche Katzen, über eingesperrte Beziehungen, Telefonate mit überbesorgten jiddischen Mammes, Drucktermine in der Quarantäne und darüber, was man über sich selbst gelernt hat, sollen Ihnen an dieser Stelle erspart bleiben. Denn Ihre Notizberge sind vermutlich ähnlich hoch wie meine.
Viel wichtiger ist, dass wir uns in der Redaktion von Herzen freuen, Ihnen eine Ausgabe voller persönlicher Geschichten und Erkenntnisse präsentieren zu dürfen, ein vorläufiges Bilanzheft des Covid-19-Phänomens, das nicht nur einen Blick zurück, sondern auch einige Blicke nach vorne wirft. Dabei kommen Menschen zu Wort, die WINA in den letzten Jahren begleiten und uns diesmal auch ganz persönliche Einblicke gewähren. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gutes Erwachen – und Freude beim Lesen.