Am 27. Jänner 1945 haben Soldaten der sowjetischen Armee die Tore zur Unterwelt geöffnet und die wenigen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau von ihren unvorstellbaren Qualen befreit.

Auschwitz war die Endstation einer Entwicklung, aus deren Fängen sich die Gesellschaft bis heute nicht vollständig befreit hat. Es wurde zur Zäsur in der Menschheitsgeschichte und zum Symbol für unvorstellbare Barbarei. 

Nach Auschwitz gibt es viele Fragen, auf die weder Überlebende noch die Zeit oder Wissenschaft eine Antwort geben können: Kann man noch glauben? Und wenn ja, woran? Was bedeuten Schuld, Pflicht und Vergebung nach der Shoah? Und wie viele Generationen werden noch die Dunkelheit in sich tragen, die sich hinter all jenen Stacheldrahtzäunen ausgebreitet hat? Und allem voran stellen wir uns immer noch die Frage aller Fragen: wie all das geschehen kann? Was macht Bekannte und Nachbarn in kürzester Zeit zu hasserfüllten Bestien – und welche Mechanismen machen Familie und Freunde wehrlos und zu Opfern dieses tobend geordneten Wahns? Es gab und gibt unzählige Erklärungsversuche, doch die Lösung haben wir immer noch nicht parat. Denn sonst hätten wir Krieg, Mord und Tyrannei längst aus unserem Alltag in die Geschichtsbücher verbannt. Doch unsere Realität zeigt heute mehr denn je: Das haben wir immer noch nicht geschafft. 

 Jahrzehnte nach der Befreiung leben wir in einer Welt, die auch in den Erfahrungen der Shoah wurzelt. Und doch geraten unsere gesellschaftlichen Regeln und moralischen Normen rasant wieder ins Wanken, wenn die Angst vor Pandemie, Krieg und Rezession sich breitmacht. Beinahe acht Jahrzehnte nach der Shoah tut sich eine tiefe Kluft in unserer Gesellschaft auf, die je nach Ambition in eine friedliche und grüne Zukunft oder auch in den Abgrund führen kann.

Und da setzt auch eine sinnvolle Gedenkkultur an, die über das reine Erinnern hinaus als mächtiges Instrument im Kampf gegen den neuerlichen Zerfall dienen kann. Gedenken hilft uns stets zu vergegenwärtigen, dass auch die Schienen nach Auschwitz über kleine Wiesenwege führten. Dass Täter, die ihre Nachbarn und Kollegen erniedrigten, verschleppten und ermordeten, nicht mit böser Magie belegt wurden. Wie auch nicht jene Mitläufer, die dabei wortlos weg- oder gar zusahen. All das vermögen Gier, Neid und Hass. 

Heute leben wir in einer Welt, die Auschwitz erfahren und das darin liegende Böse wortreich überwunden hat. Doch das Böse ist kein Wesen, keine höhere Macht. Das Böse ist etwas sehr Menschliches – das ist es auch, was es so gefährlich macht. Erkennen und aufhalten können wir es deshalb auch nur, wenn wir uns immer wieder daran erinnern, zu welchen Gräueltaten der Mensch bereits fähig war.

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