„Ich weiß, wo meine Heimat ist. Ich weiß, wo meine Wurzeln sind.“

Der in Wien geborene englische Historiker und Politologe Peter Pulzer ist 93-jährig in Oxford gestorben.

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© Georg Hochmuth / APA / picturedesk.com

„Tante, warum weinst du?“ Der knapp zehnjährige Peter nahm erfreut das Obst und die Kekse entgegen, die sie ihm zum Perron mitgebracht hatte. Die Szene spielte sich im Februar 1939 am Wiener Westbahnhof ab, und der Zug sollte Peter Pulzer, seine Schwester und seine Eltern ins sichere England bringen. „Eines Tages wirst du das verstehen“, antwortete die Tante. „Wir haben sie nie wieder gesehen“, erinnerte sich Pulzer in einem Interview für das österreichische Kulturforum London viele Jahrzehnte später. Die Pulzers waren eine typische assimilierte jüdische Familie der Zwischenkriegszeit. Der Vater Felix arbeitete als Bauingenieur, die Mutter Margarete war Handarbeitslehrerin, beide standen der Sozialdemokratie nahe und waren nicht religiös.

Die Familie wohnte in einer gutbürgerlichen Wohnung in der Brigittenau, nicht unweit vom Männerheim in der Pasettistraße, das einst Adolf Hitler als Wiener Wohnort gedient hatte, wie Pulzer später gelegentlich ironisch anmerkte. Die Vorfahren seiner Eltern waren typische Zuwanderer in die Kaiserstadt, die eine Seite stammte aus Mähren, die andere aus Ungarn.

In England schafften die Pulzers den Neustart. Der Vater fand bald wieder Arbeit, Peter besuchte erst ein Einwandererinternat zum Englischlernen, dann eine öffentliche Schule. Dass er studieren würde, war in der Familie ausgemacht, nur was, wusste er noch nicht. Zunächst dachte er an Sprachen, doch dann entschied er sich für Geschichte und wurde in Cambridge aufgenommen.

Wien sei wunderbar, freilich vor allem,
wenn man nicht gezwungen sei,
dort
zu leben.

 

Er promovierte dort und sollte später – als langjähriger Gladstone Professor of Government in Oxford – eine internationale wissenschaftliche Autorität werden. Die Grundlage dafür hatte er schon in den 1960er-Jahren gelegt, als er mit seiner Studie Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914 ein bis heute gültiges Standardwerk vorlegte. Spätere Bücher waren etwa Jews and the German state. The political history of a minority oder Germany 1870–1945. Politics, state formation, and war. Das Aufkommen von Antisemitismus und mögliche Strategien dagegen beschäftigten ihn sein Leben lang. So war er unter anderem auch Vorsitzender des Leo Baeck Instituts in London.

„Der Erfolg des populistischen Antisemitismus“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Nachruf, „sei nur möglich gewesen, weil die liberalen Parteien der Zeit versagt hätten. Weder auf die sozialen Verwerfungen noch auf den Siegeszug der modernen Demokratie hätten sie eine überzeugende Antwort gefunden. Die Kritik am Populismus des modernen Antisemitismus habe nur dann Sinn, wenn der Liberalismus für eine Form des demokratischen Zusammenlebens eintrete, welche die Bedürfnisse der Menschen (,human needs‘) ernst nehme.“

Zu Österreich entwickelte Pulzer ein differenziertes Verhältnis. „Ich weiß, wo meine Heimat ist. Ich weiß, wo meine Wurzeln sind“, sagte er mit Bezug auf England und Österreich. Mit einer Mischung aus britischem Understatement und bitterem jüdischem Humor schrieb er an einen Kollegen, Wien sei wunderbar, freilich vor allem, wenn man nicht gezwungen sei, dort zu leben.

Erstmals zurückgekommen war er schon Ende der 1950er-Jahre für wissenschaftliche Recherchen, dann hatte er das Land lange Jahre nicht bereist. In der Zeit der Waldheim-Affäre wurde er zu Diskussionen eingeladen, und ab dann kam er fast jährlich zu Besuch. Auch seine Söhne, obwohl sie nicht Deutsch sprechen, entwickelten eine Affinität zur Wiener Kultur und zum Schnitzel. Das offizielle Österreich würdigte ihn schließlich mit Ehrendoktoraten in Innsbruck und Wien und dem großen silbernen Ehrenzeichen der Republik. In Deutschland bekam er das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Im Interview für das Kulturforum räsonierte der 92-jährige Pulzer über das Angebot, die österreichische Staatsbürgerschaft wieder zu bekommen. Er tendiere dazu, das zu anzunehmen, lächelte er. Aber besonders eilig habe er es nicht. Pulzer starb im Jänner 93-jährig in Oxford.

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