Ihr „Tam“ ist unerreicht

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Genüsse und Verbote, Alltagsküche, Festtagsspeisen. An den Geschmack ihrer Kindheit erinnert sich Anita Pollak.

Feiertage und Essen. Was in anderen Religionen zu lustvollen Gelagen ausarten darf, ist im Judentum zumindest problematisch.
„Zu Pessach darf man nicht essen, was man will. Zu Sukkoth darf man nicht essen, wo man will, und zu Jom Kippur darf man überhaupt nicht essen.“ So fasste mein Vater diese Prob­lematik zusammen und dass man auch den Rest der Zeit natürlich nicht alles essen darf, war ohnehin selbstverständlich. Für Verbotenes gab es höchst verächtliche Begriffe, die den „Genuss“ desselben bereits so unappetitlich erscheinen ließen, dass man ihn gar nicht in Erwägung zog. „Chasertreife“, quasi der Superlativ von unkoscher, war im väterlichen Sprachgebrauch der Gipfel des Ekligen, und dass „Schruzem“, also Meeresgetier wie Austern oder Shrimps, vom Schöpfer nicht zum menschlichen Verzehr bestimmt sein konnten, schien nahe liegend. Außer bei Italien-Urlauben kam man aber in den 60er-Jahren ohnehin kaum in Versuchung, dieses „grausliche Zeug“ zu kosten.

„Zu Pessach darf man nicht essen, was man will, zu Sukkoth darf man nicht essen, wo man will, und zu Jom Kippur darf man überhaupt nicht essen.“

Die Alltagsküche meiner Kindheit war einfach und einfach gut. Alles sollte frisch, gesund und möglichst „nahrhaft“ sein, wie sich meine Mutter ausdrückte. Trotzdem blieben wir Kinder dünn und „schlechte Esser“, vielleicht, weil dem Holocaust entronnene Eltern gerade auf die Ernährung ihrer Brut besonders gesteigerten Wert legten. Die wahre Geschichte einer Bekannten, die aus einem großen Suppenhuhn einen einzigen Teller Suppe zubereitete und diese an ihre einzige Tochter verfütterte, war dafür symptomatisch.

Ja, die legendäre Hühnersuppe, sie gehörte zum jüdisch-kulinarischen Pflichtprogramm für Schabbat und Feiertage und wurde von uns Kindern gehasst. Oben schwammen gelbe Fettaugen und drinnen Teigiges samt Suppengemüse. Das darin gekochte Huhn folgte als Hauptspeise. Eine Variation war Rindsuppe mit gekochtem Rind, womit wir schon bei der Festtagsküche sind, die nur eine Erweiterung der Schabbes-Menüs war.

Freitagabend gab es immer den traditionellen Karpfen auf polnisch-jüdische Art mit Barches, gefolgt von Kompott und Kuchen. Besagten Fisch holte meine Mutter mit mir an der Hand am Vormittag aus dem nahen Fischgeschäft, wo er noch nichts ahnend im Becken schwamm. „Fische haben kaltes Blut, die spüren nichts“, fegte meine Mutter jedes kindliche Mitleid mit dem am hölzernen Brett zu Tode „geschlagenen“ Opfer hinweg, dessen einzelne Teile oft noch in der Verpackung zuckten. Bis heute jedoch kaufe ich Karpfen nur „lebend“ und koche ihn wie gewohnt, ein Gericht, das die Erinnerung an die Kiddusch-Melodie meines Vaters, aber ebenso an den freitagabendlichen Nüchternschmerz aufleben lässt, denn natürlich musste aufs Familienoberhaupt und dessen häusliche Schabbat-Rituale gewartet werden, bevor es manchmal recht spät an den Fisch ging.

Hungergefühle am gedeckten Tischs sind für mich aber untrennbar mit den Hohen Feiertagen verbunden. Da wir vom G-ttesdienst in dem Stiebl, in dem wir damals beteten, nach längerem Fußmarsch erst am frühen Nachmittag heimkamen, konnten wir es kaum erwarten, bis endlich das köstliche Festtagsmahl auf den Tisch kam. Eier mit Zwiebel, Suppe, Fleisch, Gemüse, Kartoffelkigl, Kompott und Lekach, wobei meine Mutter alljährlich ein neues und nun endgültig bestes Honigkuchenrezept ausprobierte. Ansonsten gab es über Jahrzehnte kaum kulinarische Experimente. Satt und erschöpft lobte man beim Tischgebet auch die Hausfrau und legte sich aufs Ohr.

Eine Steigerung des festtäglichen Hungers folgte verlässlich bereits vor Jom Kippur. Da die frühe Abendmahlzeit vor dem Fasten entsprechend nachhaltig sein sollte, fiel das Mittagessen eher sparsam aus. Um keinesfalls zu früh, aber schon gar nicht zu spät zu essen, weil man ja rechtzeitig zu Kol Nidrei im Bethaus sein musste, war die Hektik so groß, dass absolut niemand das Essen genießen konnte und jeder bereits auf dem Heimweg vom G-ttesdienst hungrig und vor allem durstig war. Nach dem Fasten, gefühlte 40 Stunden später, gab es meist nur ein kaltes, milchiges Nachtmahl mit Kaffee oder Tee, das ja eigentlich ein Frühstück war und damit dem englischen Begriff „Breakfast“, also Fastenbrechen, entsprach.

Zu Sukkoth war ein Familienausflug in die Laubhütte obligatorisch, die sich in den 60er-Jahren, kindlich geschmückt mit Buntpapiergirlanden und Zweigen, im Hof des koscheren Restaurants in der Weihburggasse befand. Fast immer war es dort kalt und zugig und unter murmelnden Gebeten von allen Tischen wurden die schweren, auch schon erkalteten Speisen eher pflichtbewusst denn lustbetont verzehrt. Zugegeben, besondere kulinarische Highlights waren die jüdischen Feiertage meiner Kindheit nicht und doch – ihr Geschmack, ihr Aroma, ihr „Tam“ ist unerreicht.

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