Ins Gespräch kommen

Wie geht es jüdischen Lehrern und Lehrerinnen seit dem Massaker in Israel am 7. Oktober? Und wie gehen sie mit dem Thema Nahostkonflikt im Klassenzimmer um? WINA traf eine Pädagogin und einen Pädagogen aus Wien. Ihre Erfahrungen werfen auch ein Schlaglicht darauf, dass es hier oft auf das Engagement von Einzelnen ankommt und Schule auf den Umgang mit solchen Situationen strukturell nicht gut vorbereitet ist.

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Bastian De Monte geht als Lehrender offensiv auf die aktuelle Situation ein und lädt zum Gespräch und Austausch über Information, Wissen, aber auch Gefühle ein. © NEOS Wien

Ronit unterrichtet an einer großen Wiener Schule. Ronit ist nicht ihr kompletter Name, aber diesen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Sie ist Jüdin, lebt seit ihrer Jugend in Österreich und hat Familie in Israel. Ihre Großeltern hatten einander einst in Wien kennen gelernt, bevor sie noch vor der Staatsgründung in das heutige Israel auswanderten. Bis vor Kurzem dachte sie, dass sie in Wien sicher sei. „Jetzt bin ich da nicht mehr so überzeugt.“

Ihre Schüler und Schülerinnen wissen, dass sie Jüdin ist. Das führt zu Situationen, die für sie nicht immer einfach zu handeln sind. In einer Oberstufenklasse verweigern zum Beispiel mehrere muslimische Mädchen die Teilnahme am Unterricht. Solange sie sich ruhig verhalten, lässt sie sie aber gewähren. „Was soll ich dagegen machen?“ Wenn sie den Test, der in den nächsten Wochen zu schreiben sein werde, positiv absolvieren, gut, wenn nicht, dann gebe es eben keine positive Beurteilung. „Das ist dann deren Problem, aber ich weiß jetzt schon, dass es dann heißen wird, die böse Jüdin hat uns hier diskriminiert.“

„Wenn sie aber eines Tages doch mitmachen wollen, werde ich sehr freundlich sein“, sagt Ronit. Auf einen offenen Konflikt will sie es als Lehrperson nun aber nicht ankommen lassen. Warum? „Weil ich davon ausgehe, dass sie dann alles abstreiten würden. Dann steht Aussage gegen Aussage.“

Diese Einschätzung hat auch damit zu tun, dass sie sich im pädagogischen Team ziemlich allein fühlt. „Jeder weiß, dass ich Familie in Israel habe. Nur eine Kollegin hat mich nach dem 7. Oktober gefragt, wie es mir geht.“ Ihr geht es aber gar nicht um sich selbst, betont sie mehrmals in unserem Gespräch. Ihr gehe es vor allem um den Umgang mit der knappen Handvoll jüdischer Schüler und Schülerinnen an dem Gymnasium. Die Zahl der muslimischen Kinder und Jugendlichen sei – gezählt, nicht geschätzt – hundert Mal größer. Und ihnen gelte nun die Aufmerksamkeit des Lehrer- und Lehrerinnenkollegiums.

„Die Schüler sollen den Raum haben,
um
ihre Gefühle und Gedanken zu teilen.
Ich
darf meine politische Meinung aber nicht
zeigen – wobei es hier ja nicht einmal um
eine Meinung geht.“
Ronit, Lehrerin

 

Die Pädagogen und Pädagoginnen seien zwar darüber informiert worden, dass es bereits zu Anfeindungen gegenüber jüdischen Kindern gekommen sei. Was genau vorgefallen ist, darüber seien sie aber nicht in Kenntnis gesetzt worden. Der Appell, der gefolgt sei, habe jedenfalls gelautet: „Wir sollen nun aufpassen, was wir sagen und wie wir uns verhalten, weil viele der arabische Schüler und Schülerinnen Traumata erlitten hätten.“ Und: Die Lehrerinnen und Lehrer sollten die Kinder und Jugendlichen nicht in Situationen bringen, in denen sie sich zwischen dem, was in der Familie gesagt wird, und dem, was in der Schule gesagt wird, entscheiden müssten. „Die Schüler sollen aber den Raum haben, um ihre Gefühle und Gedanken zu teilen. Ich darf meine politische Meinung aber nicht zeigen – wobei es hier ja nicht einmal um eine Meinung geht.“ An einem Tag im Oktober „bin ich nach Hause gekommen und habe geweint. In der Schule muss ich mich den ganzen Tag so verhalten, als ob alles ganz ok wäre. Aber das ist es ja nicht.“

Bastian De Monte geht mit der Situation an seiner Schule anders um. Er ist allerdings auch kein Lehrer mit Lehramt, sondern kam über das Programm Teach For Austria in den Schuldienst. De Monte studierte zunächst Medizin, machte nach dem Abschluss allerdings keine Facharztausbildung im Spital. Parallel hatte er auch Europäische Ethnologie belegt, später absolvierte er zudem einen Masterstudiengang in Europäischer Politik und Verwaltung. Während seines Praktikums im Generalsekretariat der EU-Kommission in Brüssel beschäftigte er sich dort vor allem mit Menschenrechtsfragen, mit Antiziganismus und Antisemitismus.

Letzterer war auch in der Familie von Kindheit an Thema: De Monte hat jüdische Vorfahren, einige von ihnen waren in Lagern interniert. Er selbst trägt schon länger eine Kette mit Magen David. Inzwischen möchte er diese gefühlte Identifikation auch offiziell machen: Er befindet sich derzeit im Giur-Prozess in der liberalen Wiener jüdischen Gemeinde Or Chadasch. Wenn ihn seine Schüler und Schülerinnen nach seiner Religion fragen, antwortet er mit: „Das ist Privatsache.“ Sie wüssten aber, dass er „jüdischen Glaubens“ sei. Dieser Glauben sei ihm auch persönlich sehr wichtig, „es geht mir nicht nur um die Identität, sondern auch um eine spirituelle Heimat“. Sichtbar wird diese Zugehörigkeit auch auf aus Sicht des Judentums unorthodoxe, aus Sicht der Schüler allerdings sichtbare Weise: Auf seinem Unterarm hat De Monte das Wort Tikvah, also Hoffnung, eintätowiert.

Als De Monte wenige Tage nach dem Massaker vom 7. Oktober in Israel mit Freunden und Freundinnen bei der Solidaritätskundgebung am Ballhausplatz standund bekannt wurde, dass es zeitgleich am Stephansplatz zu einer propalästinensischen Demonstration gekommen sei, an der viele Jugendliche teilnähmen, habe er sich gedacht: „Was, wenn da auch Schüler von mir darunter sind?“

De Monte unterrichtet in einem Polytechnischen Lehrgang in einem Wiener Außenbezirk. Sein Hauptfach ist Englisch, er lehrt aber auch Politische Bildung und leitet den Fachbereich „Oberstufen-Training“. Hier werden die Jugendlichen auf einen Übertritt zum Beispiel in ein Oberstufenrealgymnasium vorbereitet. De Monte unterrichtet inzwischen bereits das vierte Jahr, und er liebt, was er tut. „Es ist wirklich einer der schönsten Jobs, die es gibt.“

Provokation und Nichtwissen. Die Erfahrungen, die er seit dem 7. Oktober gemacht habe, stimmen ihn allerdings nachdenklich. Bei der Kundgebung am Ballhausplatz wurde ihm klar, dass er die Ereignisse in Israel und Gaza im Unterricht thematisieren müsse, vor allem in jener Klasse, deren Klassenvorstand er sei und in der er jede Woche viele Stunden unterrichte. In dieser Klasse gebe es einen Schüler mit Deutsch als Muttersprache, das Gros der Jugendlichen sei muslimisch, sie kämen aus verschiedensten Ländern, von Tschetschenien ebenso wie aus der Türkei, aus Syrien ebenso wie aus dem Irak.

Er sprach also die Ereignisse in Israel und Gaza an. Die erste Reaktion eines Schülers: „Er hat ‚Free Palestine‘ herausgerufen, ganz provokant.“ Aber, betont De Monte, das sei auch ok. „Dann nämlich können wir darüber reden. Dann kann ich fragen, was meinst du damit?“ Dann zeige sich nämlich, es werde einfach wiederholt, was man höre, ohne das zu hinterfragen.

„Ich glaube, dass die Jugendlichen
sehr oft ganz unbedacht Dinge von
sich geben, die sie gar nicht wirklich reflektieren.“
Bastian De Monte

 

In einer anderen Klasse sei er darauf gekommen, dass die Jugendlichen gar nicht wüssten, was am 7. Oktober passiert sei. Sie würden keine herkömmlichen Medien konsumieren, alle Informationen, die sie haben, würden sie über TikTok beziehen. Und dort habe der 7. Oktober in ihren Feeds schlicht nicht stattgefunden. Also habe er über die Massaker erzählt, berichtet, dass dabei auch Babys ermordet worden seien. Ein Schüler habe darauf gemeint, hier handle es sich um Selbstverteidigung. „Dann habe ich diesen Schüler angeschaut und ihn gefragt: Ein Baby zu töten ist Selbstverteidigung? Kannst du mir das jetzt noch einmal ins Gesicht sagen?“ Der Schüler habe dann nur mehr etwas gemurmelt, hätte die Aussage aber nicht mehr laut wiederholt. „Ich glaube, dass die Jugendlichen sehr oft ganz unbedacht Dinge von sich geben, die sie gar nicht wirklich reflektieren.“

Doch wie könne man hier dagegen arbeiten? „Ich glaube, dass man vor allem einmal einen Raum für Gefühle geben muss. Gefühle können nicht falsch sein. Man fragt: Was habt ihr gehört, was habt ihr gesehen? Und wie geht es euch damit? Und erst danach geht es darum, auseinanderzudividieren, was sind die historischen Fakten, welche Halbwahrheiten werden verbreitet, was stimmt überhaupt nicht. Am besten funktioniert das, wenn man sie durch Nachfragen dazu bringt, selbst draufzukommen.“

Ins Gespräch kommen: Dafür tritt auch Ronit ein. In einer Stunde kurz nach dem 7. Oktober hätte sie Schüler und Schülerinnen einer Klasse zum Judentum, aber auch zu anderen Religionen befragt. Da seien dann auch Fragen darunter gewesen wie, „Wieso schauen manche Juden anders aus?“, „Was bin ich, wenn ich nicht an Gott glaube, aber getauft worden bin?“ oder „Wieso sind Frauen in jeder Religion unterdrückt?“ Sie sei aber auch gefragt worden, „ob es stimmt, dass ich Muslime hasse“. Sie habe versucht, alles klar zu beantworten, und sie habe dabei vor allem auch die Gemeinsamkeiten von Judentum und Islam herausgearbeitet. Sie habe das Gefühl, diese Stunde habe schließlich zu einer positiven Stimmung beigetragen. „Ich habe vor allem festgestellt, dass offenbar einige der muslimischen Kinder Angst hatten, wie ich als jüdische Lehrerin nun mit ihnen umgehen würde. Danach war die Atmosphäre wieder entspannt.“

Ronit betont aber auch, dass es hier einen generellen Plan geben muss. Es müsse hier entsprechenden Unterricht für alle Klassen geben, das dürfe nicht nur vom Zufall und vom Einsatz einzelner Lehrer und Lehrerinnen abhängen. Hier hakt auch De Monte ein. Die Bildungsdirektion habe zwar wenige Tage nach dem 7. Oktober Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt, und ja, es gebe Workshops für Schulen zum Thema Extremismus. „Aber wir haben einfach ein großes Problem, wenn viele Jugendliche nur mehr Propaganda konsumieren. Wir brauchen an den Schulen flächendeckend Demokratiebildung, mehr politische Bildung, wir müssen aktuelle Themen besprechen, wir müssen Medienbildung Raum geben.“

Dafür setzt er sich auch als NEOS-Politiker ein, er hält derzeit ein Mandat als Bezirksrat in Wien-Mariahilf. Lehrer seien derzeit Einzelkämpfer, „und das Problem ist, dass sich viele Lehrkräfte gar nicht über solche Themen drübertrauen. Und ja, da stellt sich auch die Frage, ob Lehrer und Lehrerinnen dazu ausgebildet sind oder nicht.“ De Monte würde sich hier einen Kulturwechsel wünschen. „Ich fände es zum Beispiel ganz wichtig, im Rahmen der pädagogischen Ausbildung auch zu vermitteln, dass es um Haltung geht.“

Haltung ist ihm auch im Privatleben wichtig. Auf die Frage, ob er sich angesichts des massiv sicht- und spürbaren Antisemitismus noch einmal überlege, ob er wirklich einen Giur anstrebe, sagt der Lehrer: „Nein. Wir haben am Freitag nach dem 7. Oktober einen Familienschabbat gemacht, und es war so schön, wie wir da gemeinsam gebetet und gesungen haben, und gleichzeitig haben die kleinen Kinder am Boden gespielt. Und ich habe mir in diesem Moment gedacht: Genau dafür will ich mich einsetzen. Ich will, dass das noch mehr wird. Ich freue mich auch, wenn ich auf der Straße orthodoxe Juden sehe. Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.“

1 KOMMENTAR

  1. Was für ein schönes Interview!

    Und was für beeindruckende LehrerInnen: Sie tragen – als selbst indirekt Betroffene – viel zum Frieden zwischen JüdInnen und MuslimInnen – so gesehen sind ja auch die erwähnten SchülerInnen muslimischen Glaubens indirekt Betroffene – bei. Das berührt mich gerade sehr, und ich wünsche ihnen das Allerbeste!! und uns allen – welchen Glaubens-Hintergrundes auch immer – diesselbe Fähigkeit zu offenen Gesprächen und Kommunikation untereinander!!

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