Nichts ist wie es war

Das Leben von Millionen Israelis wurde durch die Massaker der Hamas am 7. Oktober erschüttert. Für die Geiseln, die nach Gaza verschleppt wurden und ihren Angehörigen geht der Alptraum weiter und wird mit jedem Tag unerträglicher.

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Vier Wochen ist es jetzt her, und nichts ist wie es war. Nichts ist normal, auch wenn die Stadtautobahn tagsüber wieder Stoßzeiten hat. Wie grundlegend anders die Zeiten sind, zeigt die riesige Panik, die ein gestörtes GPS-Signal in meinem Umkreis auslöste, weil es mein Handy fälschlicherweise im Libanon verortet hat. Ein solches Szenario – von der Hisbollah entführt und über die Grenze in Feindesland verschleppt – wäre ja nicht aus der Luft gegriffen.

Für die 242 Geiseln in Gaza ist das jedenfalls die brutale Realität. Der Albtraum, der für sie und ihre Angehörigen zuhause am 7. Oktober begonnen hat, ist mit jeder Minute, die verstreicht, noch schwerer zu ertragen. Vier Wochen ist der lang im Vorfeld geplante Massenmordfeldzug der Hamas nun schon her. Dabei wurden auch Israelis von der Straße, aus ihren Häusern, von einer Rave-Party und aus Armeestützpunkten verschleppt. Oftmals war nicht klar, ob die Vermissten ermordet wurden oder vielleicht doch noch lebten. Auf Videoaufnahmen, von der Hamas selbst ins Netz gestellt, konnten manche dann ihre Lieben identifizieren. Sie sahen, wie die Peiniger sie – bewusstlos, verletzt, oder in völliger Erstarrung – auf Motorrädern und Pick-ups in Richtung Gaza verschleppt haben. Das Bild der 23-jährigen Shani Louk ging um die Welt, wie sie entkleidet und offenbar bewusstlos abtransportiert worden war. Inzwischen machten Soldaten in Gaza einen Schädelknochen ausfindig, der zu ihr gehörte und ohne den sie nicht mehr am Leben sein kann.

Das ganz Land ist voll mit den Bildern der Entführten […].
Die Angehörigen erzählen
tränenerstickt vor den Kameras von ihren Lieben.
Viele haben Familienmitglieder, die ermordet wurden.

Im Fall von Hersh Polin sind die Eltern weiterhin in Ungewissheit, ob ihr Sohn mit seinen Verletzungen überlebt hat. Er befand sich mit anderen in einem Schutzraum, als die Terroristen dort eindrangen, Granaten zündeten und das Feuer eröffneten. Später erkannte ihn seine Mutter auf einem Video: Er schafft es, mit fünf weiteren Männern auf eine Ladefläche zu klettern, „mit einem Stumpf an der Stelle seines linken Arms“. Das letzte Signal von seinem Handy kam von der Grenze zu Gaza.

Die Zahl der Entführten liegt nach offiziellen Angaben inzwischen bei 242, darunter mindestens 33 Kinder, das jüngste ein neun Monate altes Baby. Zum Psychoterror der Hamas gehörte zunächst auch die Ansage, für jeden israelischen Angriff auf Häuser in Gaza „ohne Warnzeichen“ eine Geisel zu töten. Die Exekutionen würden „in Ton und Bild“ direkt übertragen.

© Ohad Zwigenberg / AP / picturedesk.com

Das ganz Land ist voll mit den Bildern der Entführten, endlos lange Reihen, sie empfangen Gelandete auch gleich auf dem Tel Aviver Flughafen. Die Angehörigen erzählen tränenerstickt vor den Kameras von ihren Lieben. Viele haben Familienmitglieder, die ermordet wurden.

Hoffnung kam auf, als vier Geiseln von der Hamas freigelassen wurden. Ende Oktober gelang es dann der Armee, eine junge Soldatin, die aus ihrem Militärstützpunkt entführt worden war, zu befreien. Spezialeinheiten, die über nachrichtendienstliche Informationen verfügt hatten, waren dazu eigens in den nördlichen Gazastreifen vorgedrungen.

Um auf das Schicksal der Entführten aufmerksam zu machen, haben Geiselfamilien jetzt auch Zelte
vor dem Hauptquartier der Armee und dem Ver- teidigungsministerium aufgeschlagen […].

Um auf das Schicksal der Entführten aufmerksam zu machen, haben Geiselfamilien jetzt auch Zelte vor dem Hauptquartier der Armee und dem Verteidigungsministerium aufgeschlagen, sie wollen dort fortan so lange campieren, bis alle nach Hause zurückgekehrt sind. Ihr Appell richtet sich an die Mitglieder des Kriegskabinetts – „das Leben der Geiseln ist in euren Händen“.

Die Empathie mit den Angehörigen ist groß. Das zeigen auch die vielen gelben Bänder als Zeichen der Verbundenheit. Nicht alle sind sich einig, was das richtige Vorgehen zu ihrer Befreiung ist. Man sorgt sich, dass eine groß angelegte Bodenoffensive auch das Schicksal der Geiseln mit besiegeln könnte. Zugleich wenden sie sich gegen die internationale Forderung nach einer humanitären Pause in Gaza, solange diese nicht auch die Freilassung der Geiseln miteinschließt. Hinzu kommt der Druck, den die Hamas selbst auf sie ausübt. So sollen Angehörige der Geiseln per Telefon von den Islamisten kontaktiert worden sein. Darin wurde ihnen gesagt, dass die israelische Regierung sich weigere, einem Gefangenenaustausch zuzustimmen.

© Ariel Schalit / AP / picturedesk.com

Zur gleichen Zeit hatte die Hamas ein Video mit drei Frauen veröffentlicht, die sich in ihrer Gefangenschaft befinden. Darin berichten die Verschleppten vor der Kamera von den „unerträglichen Bedingungen“, unter denen sie gehalten würden, und fordern Benjamin Netanjahu dazu auf, einem Gefangenenaustausch zuzustimmen. Der Ministerpräsident bezeichnete das Video als „grausame psychologische Propaganda“. Aus seiner Sicht sei die Militäroperation in Gaza aber eine Chance, die Geiseln zu befreien.

In Flugblättern bot die Armee Palästinensern ten sie Informationen über den Verbleib der Geiseln weitergeben. Nach Angaben der Hamas sollen „Dutzende von Geiseln“ an „sicheren Orten und in den Tunneln des Widerstands“ untergebracht worden sein. In weiteren – allerdings bisher nicht bestätigten – Erklärungen hieß es, mehrere Geiseln seien bei israelischen Luftangriffen umgekommen.

Angesichts früherer Erfahrungen sind israelische Geiseln allerdings ein höchst wertvolles Gut. Ein Dokument, das in einem der von ihr überfallenen Häusern in Israel gefunden wurde, zeigt die genauen Anweisungen zu Entführungen, um später einen Austausch mit palästinensischen Gefangene in Israel zu fordern. In der Vergangenheit hat sich das gelohnt. So war nach fünfjähriger Gefangenschaft in Gaza der israelische Soldat Gilat Shalit 2011 gegen mehr als tausend Palästinenser, die in israelischen Gefängnissen saßen, darunter der heutige Hamas-Chef Yahya Sinwar, ausgetauscht worden. Auch jetzt finden Verhandlungen in Katar statt. Über deren konkreten Verlauf kann aber derzeit nur spekuliert werden. Sicher ist gerade nur, dass es in diesen Zeiten keinerlei Gewissheiten gibt.

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