Weltmeister in Sachen Corona

Die zweite Welle hat Israel mit voller Wucht getroffen. Offen ist, ob der erneute Lockdown sich am Ende als effektiv erweisen wird.

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Israelis bei einem Protest gegen Premier Netanjahu und den nationalen Lockdown Anfang Oktober auf dem Denia Square in Jerusalem. © Olivier Fitoussi/Flash90

Im Frühjahr waren wir noch ein Vorbild in Sachen Pandemiebekämpfung. Ein strenger Lockdown hatte die erste Corona-Welle effektiv unter Kontrolle gebracht. Benjamin Netanjahu klopft sich dafür immer noch gerne auf die Schulter. Heute, ein halbes Jahr später, haben wir die höchste Ansteckungsrate weltweit. Inzwischen schlagen wir uns nur mehr selbst mit immer neuen Rekorden. Eine baldige Besserung ist nicht in Sicht, trotz erneutem Lockdown.
Präsident Rivlin bat darum, von Vergleichen mit dem Jom-Kippur-Krieg Abstand zu nehmen. „Lasst uns aufhören, an den Wunden zu kratzen.“ Andere finden, dass der Vergleich unfair sei gegenüber der damals in Ungnade gefallenen Ministerpräsidentin Golda Meir. Denn wenn die Führung damals so gehandelt hätte wie heute, schreibt der emeritierte Politikwissenschaftler Uri Bar-Joseph, wären die Ägypter nicht acht Kilometer vor dem Suezkanal gestoppt worden, sondern hätten Tel Aviv gestürmt. Einer der größten Vorwürfe war 1973 das Unvorbereitetsein, auch als alle Zeichen längst an der Wand standen.
Ob die Corona-Krise tatsächlich als zweites Debakel in die Geschichte des Landes eingeht, wird der weitere Verlauf der Datenkurve zeigen. Richtig ist, dass sich Covid-19 auch anderswo wieder stärker ausbreitet und in Israel sehr viel getestet wird. Doch die Zahlen – bis zu 10.000 neue Fälle am Tag – sind dramatisch. Auch ändert sich gerade das Gesamtbild der bisher äußerst geringen Sterblichkeitsrate. Die Krankenhäuser, die schon in normalen Grippezeiten mit einer Überbelegung von 150 Prozent leben müssen, fürchten den Kollaps, vor dem sie lange gewarnt haben. Nur hat niemand etwas getan, um die Bedingungen zu verbessern.

Offensichtlich ist, dass die Regierung nach der ersten Welle Fehler gemacht, zu rasch Lockerungen eingeführt und keinen richtigen Plan für das Danach erarbeitet hat.

Offensichtlich ist, dass die Regierung nach der ersten Welle Fehler gemacht, zu rasch Lockerungen eingeführt und keinen richtigen Plan für das Danach erarbeitet hat. Zu der massiven Ausbreitung des Corona-Virus beigetragen habe aber auch zunehmend soziale Spannungen. Von einer gemeinsamen Klammer, die sich bisher immer in Krisensituationen einstellte, wenn trotz aller Unterschiede an einem Strang gezogen wurde, ist nicht viel zu spüren. Eine Karikatur in Haaretz brachte die Lage auf den Punkt: Zwei Corona-Viren beglückwünschen einander und rufen dabei freudig aus: „Es gibt einen Himmel!“ Sie haben gleich vier Massenansammlungen vor sich, in die sie sich stürzen können: streng religiöse Männer, Anti-Netanjahu-Demonstranten, arabisch Großhochzeiten und säkulare Protestierende in Badekleidung am Strand.
Der Streit untereinander hat die eigentliche Pandemie aus dem Blickfeld gerückt. Man könnte auch sagen: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht mehr. Die Liste der Einschränkungen, an die sich ohnehin nicht allzu viele halten, wird jeden Tag unübersichtlicher. Das Allgemeinwohl ist aus dem Fokus geraten in einer Gesellschaft, in der ohnehin ein Kulturkampf um die Identität des Landes im Gange ist. Experten hatten eigentlich dafür plädiert, nur dort strenge Regeln einzuführen, wo die Ansteckungsrate sehr hoch ist: in ultraorthodoxen und arabischen Wohngegenden. Doch die Maßnahmen, die auf gängigen Gesundheitsparametern fußen, „zerschellten an den Felsen des Tribalismus“, wie es Shuki Friedman, Direktor des Zentrums für Religion, Nation und Staat am israelischen demokratischen Institut, formuliert.

Das Allgemeinwohl ist aus dem Fokus geraten in einer Gesellschaft, in der ohnehin ein Kulturkampf um die
Identität des Landes im Gange ist.

Benjamin Netanjahu, der von Demonstranten wegen des laufenden Prozesses gegen ihn gerne auch „Crime-Minister“ genannt wird, sieht sich jetzt zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, gegenüber den Forderungen einflussreicher ultraorthodoxer Politiker einzuknicken. Was wiederum säkulare Israeli auf die Barrikaden bringt, die nicht einsehen wollen, warum Synagogen und Jeschiwot unter bestimmten Auflagen offen haben dürfen, sie aber nicht ins Ausland fliegen dürfen oder es ihnen zunächst hätte verboten sein sollen, im Meer zu schwimmen. Das Demonstrationsverbot wurde inzwischen eingeschränkt. In Bnei Brak und Mea Shearim aber wurden Laubhütten aufgebaut, in denen Hunderte von Gästen Platz haben, ohne dass jemand eingeschritten wäre.
Dabei ist gerade dieser Sektor besonders von der Pandemie betroffen. Die Gruppe mit der mit am Abstand größten Infektionsrate ist ultraorthodox, männlich, 17 bis 22 Jahre alt. In Städten wie Beitar Illit (32,5 %), Elad (31,2 %), Bnei Brak (28 %) und Modi’in Illit (26,4 %) liegt die Positivrate somit weit über dem Durchschnitt. Bei 17 chassidischen Pilgern, die aus Uman zurückgekehrt sind, wurde Corona nachgewiesen. Wie viele Infizierte tatsächlich unter den Rückkehrern sind, weiß niemand, da sie die Kooperation verweigern – bisher, ohne irgendwelche Konsequenzen fürchten zu müssen.
Es fällt schwer zu sehen, wie die Kurve so bald wieder abflachen soll. Ursprünglich hätte der Lockdown bis zum Ende von Sukkot andauern sollen, dann wurde er schon einmal bis zum 14. Oktober verlängert, und er wird wohl auch in Varianten weit darüber hinaus andauern. Netanjahu spricht derzeit von „einem halben Jahr bis zu einem Jahr“.

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