Im Gedenken an die Opfer des Terroranschlags von 1981: Sarah Kohut s. A. und Nathan Fried s. A.
Schräg gegenüber vom Eingang mit dem Gedenktafel steht heute ein Mahnmal, das an die Opfer des Anschlags vom November 2020 erinnert.

An dem Tag, der sich ins Gedächtnis von Rudolf  Vesztergombi einbrennen sollte, arbeitet er eigentlich nicht. Der Leibwächter von Leopold Böhm hat freibekommen, denn der Industrielle plant an diesem Samstag zunächst nicht, in den Stadttempel zu gehen. Vesztergombi, damals ein junger Mann mit buschiger blonder Frisur, erledigt am Morgen dieses 29. August 1981 deshalb Besorgungen für seine Großmutter, in ein Café oder in einen Park setzt er sich anschließend nicht. Stattdessen geht er nochmal nach Hause, was sich im Nachhinein als Glücksfall erweisen sollte. Denn dort erreicht ihn ein Anruf von Böhms Ehefrau Lotte. „Der ist doch in die Synagoge gegangen“, sagt sie zu Vesztergombi. Im Stadttempel findet an diesem Tag die Bar Mitzwa eines Jungen statt, dessen Vater Geschäftspartner von Böhm ist. „Fahren Sie auch hin und holen Sie ihn zumindest ab, wenn er rauskommt“, bittet Lotte Böhm den Leibwächter, der sofort einwilligt. Lotte Böhm ist durch eigene Erfahrungen besonders sensibilisiert, wenn es um Sicherheit geht: Wenige Jahre zuvor war sie von Kriminellen entführt worden, die sie erst gegen hohes Lösegeld freiließen.

Rudolf Vesztergombi begibt sich zur Seitenstettengasse, eingesteckt hat er seine „Freizeitwaffe“, so nennt er den Colt der Marke Smith & Wesson mit fünf Patronen. Vor dem Eingang des Stadttempels hat sich ein junger Polizist postiert, Vesztergombi steht gegenüber vor einer geschlossenen Bar und unterhält sich mit einem Chauffeur. Es ist 11.31 Uhr, der Gottesdienst im Stadttempel endet gerade. Der Leibwächter sieht einen jungen Mann vorbeigehen, er hat sich eine Sporttasche umgehängt, in der eine Rose steckt. Seltsam, denkt sich Vesztergombi noch, ein Rosenkavalier um diese Zeit.
Momente später explodiert eine Handgranate, das große Verbrechen beginnt. In der Sporttasche befinden sich Waffen und Munition, die Rose dient als Erkennungszeichen, denn die beiden arabischen Attentäter kennen einander bis dahin noch nicht. Die Männer gehören zur palästinensischen Terrorgruppe von Abu Nidal, einer noch extremistischeren Abspaltung von Jassir Arafats ohnehin radikaler PLO. Das Kommando hat einen monströsen Auftrag: möglichst viele Frauen, Männer und Kinder zu ermorden, die jüdisch sind – ein Massaker an geweihtem Ort mitten im Zentrum des jüdischen Lebens in Österreich. Zum Zeitpunkt des Angriffs befinden sich mindestens 150 Menschen in der Synagoge, manche Quellen sprechen sogar von bis zu 250.

An dem Tag, der sich ins Gedächtnis von Rudolf  Vesztergombi für immer einbrennen sollte, arbeitet er eigentlich nicht. Der Leibwächter von Leopold Böhm hat freibekommen, denn der Industrielle plant an diesem Samstag zunächst nicht, in den Stadttempel zu gehen. Doch der Anruf von Böhms Ehefrau änderte alles und machte Vesztergombi zum Helden des Attentats 1981.

Die ersten Granatsplitter bohren sich in den jungen Polizisten, getroffen werden auch Gemeindemitglieder, die eben auf die Seitenstettengasse hinausgehen. Das Kopfsteinpflaster ist mit Blut bespritzt, auch die Rose des Täters liegt dort. Zwei Menschen sterben an diesem Tag, 21 werden teils schwer verletzt: Da ist etwa Salomon Weiß, 28 Jahre alt, ein Geschoss trifft ihn in die Brust. Flora Ebner, Jahrgang 1909, erleidet eine Schussverletzung im Unterschenkel. Jack Rottmann, ein Pensionist über 70, hat „Splitterverletzungen am ganzen Körper“, wie der Kurier berichtet. Ein Projektil verletzt ein dreijähriges Kleinkind – „Steckschuss“. Der junge Polizist Wolfgang Hosenstöck überlebt mit einem Lungenschuss und hat „60 Splitter im Bein“, schreibt die Kronen Zeitung. Die Seniorin Barbara Fried wird von zwei Kugeln getroffen, ihr Mann Nathan bricht neben ihr mit einem Bauchschuss zusammen. „Ich verblute“, sind seine letzten Worte.

Getroffen wird auch Ulrike Kohut. Die 27-Jährige wirft sich auf Markus Kohn, den dreijährigen Sohn ihrer besten Freundin Malwine. „Die Ulli hat mir das Leben gerettet“, sagt Kohn heute. Er wird damals am Kopf verletzt, die Zeitungen drucken Fotos des Jungen mit einem Verband um die Stirn. Über Markus‘ Mutter hat Kohut ihren Mann Josef kennen- und lieben gelernt, sie war zuvor zum Judentum konvertiert. Die Hochzeit von Ulli und Josef fand nur ein halbes Jahr vor dem Terrorakt statt.

 Die Ulli hat mir
das Leben gerettet, sagt Markus Kohn heute.
Ulrike Kohut, die sich schützend auf den Jungen wirft, wird beim
Attentat tödlich verletzt.

Konkrete Warnungen vor der Attacke in der Seitenstettengasse liegen damals nicht vor, doch dass die Israelitische Kultusgemeinde Wien Ziel werden kann, ist klar. In den Jahren zuvor und danach verüben palästinensische Extremisten überall auf der Welt Anschläge auf Juden mit und ohne israelischen Pass. Besonders drastisch: der Überfall des israelischen Olympia-Teams in München 1972, der mit der Ermordung aller Geiseln endete. Und die Entführung einer Air-France-Maschine, die in Tel Aviv gestartet war, ins ugandische Entebbe, wo ein israelisches Kommando die Geiseln befreite und dabei die palästinensischen und deutschen Kidnapper tötete.

Auch nach Österreich war der palästinensische Terror gekommen: In Wien detonierte 1979 ein Sprengsatz im Hof des Stadttempels, den extremistische Palästinenser dort deponiert hatten – Menschen wurden nicht verletzt, aber der Sachschaden war enorm. Und am 1. Mai 1981, wenige Monate vor der Terrorattacke in der Seitenstettengasse, wurde der Wiener Stadtrat Heinz Nittel vor seinem Haus erschossen. Der Sozialdemokrat war zum Ziel geworden, weil er Präsident der österreichisch-israelischen Gesellschaft war. Die Abu-Nidal-Gruppe bekannte sich zu dem Mord an Nittel – eben jene Terrororganisation, die zwei ihrer Männer am 29. August 1981 losschickt, um ein Massaker unter Juden anzurichten. Einer der beiden Täter wird sich schon wenig später als Mörder von Nittel herausstellen.
Dass sich der Anschlag nicht noch gravierender auswächst, liegt an mehreren Faktoren. Wegen der Bar Mitzwa strömen zu diesem Zeitpunkt nur wenige Menschen aus der Synagoge, die meisten bleiben wegen des festlichen Ereignisses noch etwas länger in dem Gebäude. Außerdem reagieren die Ordner der Israelitischen Kultusgemeinde nach der Detonation der ersten Granate bestmöglich: „Ich hörte einen Knall“, sagt Elvira Glück, die mit ihrem damaligen Freund unbewaffnet am Eingang steht. Die damals 20-Jährige wagt einen Blick in die Gasse und sieht zuerst einen blonden Mann, der aus der Hocke aus einer Waffe schießt. „Im ersten Moment habe ich ihn für einen Neonazi gehalten“, sagt Glück. „Dann sehe ich den anderen Mann, wie er einen Ball wirft – und erkenne, dass es sich dabei um eine Handgranate handelt.“ Geistesgegenwärtig schließt die damals 20-Jährige die historische Pforte und verriegelt sie: Der Zugang zum Stadttempel ist somit versperrt.

„Ich habe einfach funktioniert und  Rudolf Vesztergombi hat uns das Leben gerettet.“ Elvira Glück

Der Leibwächter sieht draußen in der Gasse zunächst nur einen Täter, der eine zweite Handgranate in seine Richtung wirft. Der Leibwächter rennt ihm entgegen und feuert auf ihn, ein-, zwei-, dreimal. „Der hat sich dann so komisch ruckartig umgedreht“, sagt der Leibwächter. Der Täter ist getroffen, aber er läuft weiter die leichte Steigung hinauf, immerhin weg vom Stadttempel. Wenige Meter bevor die Seitenstettengasse in die Judengasse mündet, biegt der Täter rechts ein, in einen Hausdurchgang. Dort zieht er eine Maschinenpistole aus der Tasche und feuert in die Seitenstettengasse, verfehlt Vesztergombi, der auch noch einen Schuss aus seinem Revolver abgibt.

Mit nur noch einer Patrone im Colt wagt der Leibwächter eine tollkühne Aktion: Mit einem großen Satz springt er ebenfalls in den Hauseingang und feuert seinen letzten Schuss auf die gegenüberliegende Seite wo sich der Attentäter befindet. Sofort hechtet Vesztergombi zurück in die Seitenstettengasse und verschwindet so flink aus dem Schussfeld, dass ihn auch der zweite Attentäter verfehlt. Der Leibwächter findet Zuflucht in einer benachbarten Schreinerei. Dort nimmt er eine Axt von der Wand und wartet hinter der Tür, doch die Täter tauchen nicht mehr auf. Seit dem Beginn des Anschlags sei zu diesem Zeitpunkt nicht einmal eine Minute vergangen, sagt Vesztergombi 40 Jahre später.

Letztendlich hat mich der Terroranschlag so stark gemacht – als Opfer empfinde ich mich nicht.
Juwal Grauss

Mit nur noch einer Patrone im Colt wagt Rudolf Vesztergombi eine tollkühne Aktion: Mit einem großen Satz springt er in den Hauseingang und feuert seinen letzten Schuss auf die gegenüberliegende Seite wo sich der Attentäter befindet – und rettet damit unzähligen Menschen das Leben.

Er sieht sich nicht als Opfer. Das Erlebte hat Juwal Grauss stark gemacht. Seine jüdische Identität wird ihm in der Folge viel mehr bewusst, seine Liebe zu Israel wächst ins Innige und er setzt sich fortan gegen Unrecht aller Art ein.

Wenig später nehmen herbeigeeilte Polizisten den angeschossenen Täter fest. Noch in Handschellen reckt der Mann zynisch zwei Finger zum Victory-Zeichen. Sein Komplize läuft derweil weiter und verbreitet Leid und Tod. Am Desider-Friedmann-Platz, der damals noch Teil des Fleischmarkts ist, schießt er auf den zehnjährigen Juwal Grauss. Der war erst kurz vorher mit seinen Eltern aus dem südisraelischen Be‘er Scheva nach Wien übersiedelt. Juwal, das bis dahin kaum religiöse „Wüstenkind“, besucht zum überhaupt ersten Mal eine Synagoge, er bereitet sich auf seine Bar Mitzwa vor. Als er es knallen hört, denkt er im ersten Moment an Feuerwerk, merkt aber gleich, dass etwas nicht stimmt. Plötzlich ist seine Hose an der linken Seite nass, es ist Blut, sein Blut, er ist getroffen. „Dann sehe ich, wie der Terrorist mir frontal entgegenläuft“, sagt Grauss, „ein Typ mit Maschinenpistole“. Instinktiv legt sich der Junge auf den Boden, hält den Atem an, stellt sich tot. Der Täter feuert nicht nochmal auf ihn. Wenige Minuten wird der Terrorist in der Brandstätte von der Polizei überwältigt.

Grauss ist am Knie getroffen, Granatsplitter stecken in ihm, und er hat einen Durchschuss. Sanitäter wollen ihn zunächst gemeinsam mit dem verletzten anderen Täter in einem Rettungswagen abtransportieren, aber dagegen protestiert der Junge erfolgreich. Im Spital teilt er sich das Zimmer mit den verletzten Polizisten, Journalisten kommen und fotografieren ihn, so kommt Grauss auf die Titelseite der Kronen Zeitung. Seine Eltern, die beide Ärzte sind, holen ihn bald nach Hause, weil sie Sorge haben, dass ihr Sohn entführt werden könnte: Eine verwirrte Frau versucht zu ihm zu gelangen, weil sie in dem Jungen ihren verschwundenen Sohn erkannt haben will.

Die Hintergründe des Anschlags werden bald aufgeklärt. Die Ermittler rekonstruieren die Planung der Tat, sichern Waffen und andere Beweisstücke in Wohnungen und fassen in Salzburg den Abu-Nidal-Führungsoffizier, der die Täter angeleitet hat. Auf politischer Ebene verurteilt man das Verbrechen in Österreich einhellig, allerdings kommt es zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen Bruno Kreisky und Israel, wo Parteien und Presse dem Bundeskanzler wegen seiner Arafat-Nähe eine Mitschuld geben. Der Sozialdemokrat, der selber Jude ist, poltert ungestüm zurück.

Der Spitze der Israelitischen Kultusgemeinde ist nach dem Anschlag klar, dass man den Schutz des Stadttempels und anderer jüdischer Einrichtungen deutlich verbessern muss, denn die staatlichen Maßnahmen reichen augenscheinlich bei Weitem nicht aus. Seitdem investiert die IKG große Summen in Sicherheitsbelange, inzwischen sind es etwa 20 Prozent des Jahresetats.

Die Terrorgruppe Abu Nidal, die zwischenzeitlich von den arabischen Diktatoren Saddam Hussein, Hafiz al-Assad und Muammar al-Gaddafi, aber ebenso vom iranischen Mullah-Regime unterstützt wird, mordet in den Folgejahren weiter – auch in Österreich. Am Flughafen Wien-Schwechat greift 1985 ein Abu-Nidal-Kommando eine Passagierschlange vor dem Schalter der israelischen Fluglinie El-Al an, drei Zivilisten sterben, Dutzende werden verletzt.

Die Erinnerung an den Anschlag auf den Stadttempel kommt bei vielen älteren Österreichern am 2. November 2020 wieder hoch. Ein österreichischer Islamist nordmazedonischer Herkunft ermordet am Abend vier Menschen und verletzt 23 weitere, dann wird er von der Polizei getötet. Erneut fallen die ersten Schüsse vor dem Stadttempel, auch am Fleischmarkt feuert der Mann auf Menschen. Die Tatorte von 1981 und 2020 überschneiden sich. Und so erinnern am kleinen Desider-Friedmann-Platz heute eine Gedenktafel und ein Gedenkstein an zwei ebenso sinnlose, wie furchtbare Untaten, die sich hier zugetragen haben.

Juwal Grauss, der beim Anschlag 1981 verletzt wurde, ist am Abend des Anschlags vom 2. November 2020 in der Nähe des Stadttempels zum „Ganslessen mit Freunden.“. Als er mitbekommt, was gerade passiert, eilt er in Richtung Seitenstettengasse. Grauss ist wütend und hat das Gefühl, helfen zu müssen, um den Terror zu stoppen. Schließlich landet er in einer Bar, in der man sich verbarrikadiert, und trinkt Whiskey mit einem muslimischen Freund, bis alles vorbei ist.

Juwal Grauss, der beim Anschlag 1981 verletzte Junge, ist am Abend des 2. November 2020 in der Nähe zum „Ganslessen mit Freunden“, wie er sagt. Als er mitbekommt, was gerade passiert, eilt er in Richtung Seiten­stettengasse. Schaulust treibt in nicht. Grauss ist wütend, er hat das Gefühl, irgendwie helfen zu müssen, den Terror zu stoppen. Schließlich landet er in einer Bar, in der man sich verbarrikadiert, und trinkt Whiskey mit einem Freund, der Muslim ist. Die Erinnerung an den Terror, den er als Kind überlebt hat, leitet Grauss in positive Bahnen. Seine jüdische Identität wird ihm in der Folge viel mehr bewusst, seine Liebe zu Israel wächst ins Innige und er setzt sich ein gegen Unrecht aller Art. „Letztendlich hat mich der Terroranschlag so stark gemacht“, sagt Grauss heute, „als Opfer empfinde ich mich nicht.“

Markus Kohn lässt die Erinnerung an Ulrike Kohut nicht los, an die Frau, die sich 1981 schützend über ihn wirft und stirbt. Kohn erzählt von ihrer Mutter, der der Terror ihr einziges Kind raubt, davon, wie er noch über Jahre Kontakt zu ihr hält, Karten mit ihr spielt. „Sie war Teil unseres Lebens“, sagt Kohn. Als der Ehemann ihrer toten Tochter abermals heiratet und eine Familie gründet, passt Ullis Mutter wie selbstverständlich auf die Kinder auf, Kohn nennt sie eine „adopted grandmother“. Seit 20 Jahren lebt er nun schon in London, inzwischen hat er eine eigene Familie. Seine Lebensretterin ehrt er auf besondere Weise: Seine fünfjährige Tochter heißt Sarah, benannt nach Ulli Kohuts hebräischem Namen.

Trauermarsch 1981 in der Seitenstettengasse nach dem Anschlag.

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