Editorial

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Im September 2011 erschien das erste WINA-Magazin – mit zitternder Hand haben wir das Mail mit „druckfrei“ an die Druckerei geschickt. Damals bereits schien die Welt etwas aus den Fugen geraten zu sein. Die Ausläufer der Weltwirtschaftskrise und die Eurokrise hielten uns in Atem, die Katastrophe von Fukushima führte uns die tödliche Gefahr des Atomzeitalters vor Augen, der arabische Frühling und die Gewalt gegen die dort erwachende Opposition ließen uns mitfiebern und dann doch enttäuscht zurück, und mit Occupy formierte sich von Europa über den Nahen Osten bis in die USA die erste globale Bürgerprotestbewegung, die auf all dies Antworten forderte.
Acht Jahre später, September 2019: die Hände zittern immer noch, wenn auch um vieles routinierter. Und so tut es auch die Welt um uns herum. Krisen kommen und gehen, die Menschen ver­suchen sie zu überwinden, mit ihnen leben zu lernen, oder sie – mit tatkräftiger Unterstützung des Konsums – aus ihrem Alltag auszublenden: Wirtschafts­krisen, Geflüchtetenkrisen, Regierungskrisen, ideologische Krisen und allem voran die Krise unseres Planeten, die sich mit Riesenschritten einer Katas­trophe nähert.

„Nach der Wahrheit ist vor dem Faschismus.“*
Timothy Snyder

Und wo sehen wir uns als WINA in all dem, wie sieht unser Bilanz der vergangenen acht Jahre aus? Der vor kurzem seinen 90. Geburtstag feiernde Prof. Paul Lendvai sagte in einem aktuellen Interview, dass die Aufgabe des Journalismus’ das unermüdliche Auftreten gegen das Böse sei. Doch was und wo ist das Böse? Liegt wohl auch im Auge des Betrachters. Unsere Selbstdefinition als „Das jüdische Stadtmagazin“ gibt uns hier Schützenhilfe: Rassismus, Antisemitismus, Schoaleugnung, nationalistische und faschistische Entwicklungen sind für uns unwiderruflich „böse“ und müssen daher aufgezeigt und angeprangert werden. Wir wollen dies nicht durch bunte Feeds und laute Breaking News in Ihr Leben flimmern lassen, sondern möchten – um es mit den Worten des Historikers Timothy Snyder zu sagen – auf die große Welle aufmerksam machen, die durch das Flimmern oft ungesehen bleibt.
Wir können und möchten nicht für uns pachten, die einzig richtige Vogelperspektive auf unser aller Welt zu haben – das wäre vermessen und ebenso zynisch wie das Agieren jener, die wir zu entlarven versuchen. Was wir aber schon können, ist jene Verantwortung zu übernehmen, die uns – wie ich glaube – unsere Ermordeten und Überlebenden übertragen haben: einerseits unsere besonders sensiblen Sensoren einzusetzen, den Blick auf die gesellschaftlichen Wunden zu richten und andererseits historische und utopische Gegenstrategien zu beleuchten, um in der Gegenwart Böses zu schwächen.
Liberale Demokratien geben uns diese Möglichkeit dazu, sichern uns Raum für die Unan­tastbarkeit der Menschenwürde und für Presse- und Meinungsfreiheit. In illiberalen Demokratien dagegen wird dieser Raum immer enger, demokratische Institution wie Gerichte, Gewerkschaften und Gesetze werden geschwächt, Gewaltentrennung aufgehoben, Pressefreiheit eingeschränkt – legitimiert durch WIR und DIE gemeinsamen Feinde.
„Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen“ – auch das sagt Snyder, dem ich hierin leider nicht völlig zustimmen kann. Jedenfalls aber ist dieses Lernen ebenso Teil unserer Verantwortung als Nachgeborene: Wir müssen das Grauen verstehen und das aus ihm Gelernte weiter­erzählen – um dessen Wiederholung im Keim zu ersticken.
Geschichte wiederholt sich dann doch? Wahlen sind nicht immer ein Garant für Besseres, für die Demokratie, aber sie ist die naheliegendste Möglichkeit, den Anfängen zu wehren. Die kürzlich abgehaltenen Landtagswahlen in Deutschland haben zuletzt gezeigt, dass die Wahlmechanismen leider auch jene „Gegenseite“ gut zu nutzen weiß, die das tatsächlich absolute Böse als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnet.
Die kombinatorischen Möglichkeiten für Lös­ungsvorschläge für die großen Herausforderungen sind (derzeit) sehr beschränkt – religiöse Bigotterie und politischer Totalitarismus haben bereits gezeigt, dass sie tödlich sind. Der Liberalismus hin­gegen, als jüngste Lösungsidee, erprobt sich erst und versucht seine Kinderkrankheiten zu überwinden. Wir sollten dabei alle Kinderarzt spielen – und wählen gehen, solange wir die Wahl haben. Denn wer weiß, vielleicht führt er uns auf den richtigen Weg.

* Timothy Snyder: Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand. C. H. Beck, 127 S., € 10,-

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