Editorial

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Antirassismus-Demo nach dem tödlichen Anschlag vor der Synagoge in Halle. © Axel Heimken/dpa /picturedesk.com

81 Jahre sind vergangen, seit die Novemberpogrome über Mitteleuropa fegten. Menschen wurden in der Nacht des 9. November zu Freiwild – sie wurden enteignet, ihre Gebetbücher in ihren Synagogen verbrannt, sie wurden getötet, in den Suizid getrieben – ihr menschenwürdiges Dasein hörte in dieser Nacht auf zu existieren. Diese diabolischen Gewaltorgien waren, wie wir heute wissen, erst der Auftakt. Sehr bald schon lief die nationalsozialistische Mordmaschinerie auf Hochtouren: Viele Millionen wurden gequält, erniedrigt, in die Flucht getrieben oder ermordet – und damit auch viele weitere Generationen traumatisiert. Doch nicht Pogrome, sondern Worte standen am Anfang – und das bereits Jahre, ja Jahrzehnte zuvor. Alles begann mit Worten, mit Hassworten, mit Hassreden, mit Hassschriften.
Worte sind mächtig – machen jene, die sie beherrschen mächtiger als jene, die sie damit in ihren Bann ziehen. Das Gesprochene beeinflusst Denken, Fühlen und Körperempfinden. Eine Liebeserklärung, ein heftiges Wortgefecht, lobende Worte berühren nicht nur seelisch, auch der Körper reagiert je nach dem mit Gänsehaut, Herzklopfen oder Angstschweiß. Mit Sprache kann getröstet oder verletzt, beruhigt oder erregt, verwirrt oder aufgeklärt werden. Wissenschaftlich messbar ist der Stress beim Aussprechen eines Tabuwortes, aber auch die beruhigende Wirkung eines gesprochenen Gebetes.
Worte schufen und schaffen Realität: Da wurden aus reisenden Händlern Brunnenvergifter, aus Nachbarn Untermenschen. Da wurde aus einem Schoah-Überlebenden und Philanthropen durch einen imaginären „Plan“ der Staatsfeind Nr.1. Und aus Menschen, die vor Krieg und Elend flüchten, werden Migranten. So lassen sie sich dann einfacher als Gruppe abgrenzen und wegsperren. Denn darum geht es mehrheitlich: „das Wir“ und „die Anderen“ voneinander zu unterscheiden. Das wirkt auf beiden Seiten identitätsbildend. So las ich vor kurzem eine Rede von Rabbiner Schlomo Hofmeister über Hassreden, in der er folgende Worte des Kotzker Rebbe* zitierte: Wenn ich ich bin, weil du du bist, und du du bist, weil ich ich bin, dann bin ich nicht ich und du bist nicht du! Aber wenn ich ich bin, weil ich ich bin, und du du bist, weil du du bist, dann bin ich ich, und du bist du.
Worte halten auch Erinnerungen wach. Sie haben die Fähig­keit uns zu ermahnen, wachsam zu sein und nicht wortlos(!) zuzusehen, wenn die Sprache wieder verroht, sich mit Hass füllt und moralische Grenzen sprengt. Deshalb wählen wir immer wieder – so auch in diesem Heft – mit Bedacht Wortgeflechte, die an Momente erinnern, in der Hassworte zu Hasstaten führten. Denn wir glauben, dass Erinnerungen die Grundlage des (Selbst)Bewusstseins bilden. Und ist man des eigenen Selbst erst sicher, so braucht man den Anderen nicht mehr, um sich von ihm zu unterscheiden. Das gemeinsame Mantra „Niemals wieder!“ soll uns dabei stets als Verpflichtung und Orientierungshilfe dienen!

* der Kotzker Rebbe: Rabbi Menachem Mendel von Kotzk (* 1787–1859 in Kotzk bei Lublin), war ein chassidischer Rabbiner.

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