Editorial

„Vergebung ist ein Geschenk, das man sich selbst schenkt, indem man einem anderen Menschen nicht erlaubt, dass er sich in Ihrem Körper und Geist breitmacht.“ Edit Eva Eger, Psychotherapeutin und Überlebende der Schoah.

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Bundeskanzler Nehammer entschuldigte sich im Namen Österreichs bei Yair Lapid für die Ermordung seines Großvaters. (v.l.) Außenminister Alexander Schallenberg, Bundeskanzler Karl Nehammer und Israels Außenminister Yair Lapid in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.© ROLAND SCHLAGER / APA / picturedesk.com

Selten sieht man erwachsene Männer weinen, noch seltener, wenn sie nicht nur erwachsen, sondern auch Staatsmänner sind. Umso beeindruckender muss der Anlass für solch ein öffentliches Bekenntnis zur inneren Gefühlswelt sein. Ein solcher Anlass war die Rede Yair Lapids, der als israelischer Außenminister an der Gedenkfeier im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen teilnahm und als Enkel von Béla Lampel eine Rede hielt. Die Rede eines Enkelsohns, dessen Großvater im Konzentrationslager Mauthausen ermordet wurde. Dieser Mann war nicht nur eine Nummer in der diabolischen Buchhaltung eines hasserfüllten Regimes. Er war vor allem ein Ehemann und Vater, der mit seinem Sohn zum Fußballspielen ging, sein Omelett gerne im Kaffeehaus aß und niemandem Unrecht tat. Und: „Er war einfach nur… Jude.“ Nur deshalb musste er im April 1945 sterben, noch bevor das Reich des Hasses einige Wochen später zusammenbrach.
Doch er war auch ein Mann, der auch nach seinem Tod weiterwirkte: „Großvater Béla, ein ruhiger Mann, der in der Familie ,Béla, der Weise‘ genannt wurde, sandte mich hierher, um in seinem Namen zu sagen, dass die Juden nicht aufgegeben haben. Sie haben einen starken, freien und stolzen Jüdischen Staat geschaffen, und sie haben seinen Enkelsohn entsendet, um sie hier heute zu repräsentieren. Die Nazis glaubten, dass sie die Zukunft wären und dass man Juden nur mehr im Museum finden würde. Stattdessen ist der Jüdische Staat die Zukunft und Mauthausen eine Gedenkstätte. Ruhe in Frieden, Großvater, du hast gewonnen.“
Großvater Béla wurde zum Opfer – eines von sechs Millionen Opfern des Hasses. Aber er hinterließ seinem Enkel eine Aufgabe. Sie alle hinterließen uns eine Aufgabe. Sechs Millionen Mal dieselbe Aufgabe: „Nie wieder!“ Nie wieder Unrecht dulden, Unterdrückung zulassen, Hass ignorieren, nie wieder die Zeichen an der Wand übersehen.
Mein eigener Großvater überlebte das Grauen in Mauthausen mit knapp 20 Jahren, 28 Kilo, schneeweißen Haaren und schwerem Diabetes. Er starb an den Folgen seines Martyriums erst Jahrzehnte später. Bis dahin lebte er – und wie er das tat: Er liebte es zu essen, zu feiern, mit seiner geliebten Frau ins Theater und in die Oper zu gehen, er liebte es zu reisen, zu lesen, zu lachen, er liebte seine Tocher und seine Enkelkinder. Er liebte das Leben, wie es nur jemand kann, der dem qualvollen Tod ins Auge geblickt hat. Mein Großvater sprach nie darüber, was er im Lager sah. Doch oft wachte ich neben ihm auf in der Nacht, wenn er im Traum herzzerreißend wimmerte.
Unrecht, Hass und Erniedrigung im Keim zu ersticken ist unsere Aufgabe als Nachgeborene. Das Leben zu lieben ist das Werkzeug, das die Erfüllung dieser Aufgabe möglich macht. Das ist das Erbe, das mir mein Großvater hinterlassen hat. Ihm gerecht zu werden ist nicht immer einfach, auch nicht, die Last dieses Erbes zu tragen.
Doch für beides gilt ihm mein Dank!

 

 

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