Ein streitbarer Geist mit handfesten Argumenten

Saul Friedländer zum 90. Geburtstag. Eine Würdigung des kämpferischen großen israelischen Historikers.

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Als bedeutender Historiker und Holocaust-Forscher hat der 1932 in Prag geborene Pawel, später Saul, Friedländer seine Kollegen Raul Hilberg, Wolfgang Benz und Götz Aly sehr geschätzt, obwohl deren Forschungszugang ein gänzlich anderer war als seiner: Hilberg hatte 1961 mit seinem Pionierwerk Die Vernichtung der europäischen Juden den Holocaust noch vor allem als Geschichte der deutschen Ermordungsmaschinerie beschrieben. Benz wiederum verknüpfte profunde historische Kenntnisse mit sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen, und Götz Aly forschte zu den wirtschaftlich-materiellen Beweggründen der NS-Diktatur. „Ich hatte schon damals bei Hilberg das Gefühl, das reicht nicht aus, eine Geschichte der Shoah müsste mehr erzählen. Die Juden kamen ja meist nur als Opferzahlen vor. Ich wollte den Ermordeten ihre Stimme zurückgeben“, so Friedländer, der dies in seinem zweibändigen Opus magnum Das Dritte Reich und die Juden mustergültig getan hat. „Das war für mich das wichtigste Motiv, denn erst wenn man die Tagebücher der Opfer liest, kann man deren Individualität, ihre Hoffnungen und Empfindungen erkennen“, erklärte Friedländer in einem Interview mit der Hamburger Zeit.

„Das sind eben keine Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank, sondern ganz unterschiedliche Menschen. Daher wurden diese Zeugnisse zum Kern meiner Darstellung: Die Stimmen der Opfer kamen in meine Erzählung hinein, sie wurden fast zu meiner Stimme: Ich war zutiefst bewegt von den kleinsten Details dieser Leben.“

Der Historiker und der Sohn Friedländer weiß wovon er spricht: Seine Eltern wurden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.

Überlebende wie Saul Friedländer könnten keine guten Historiker sein, weil sie mystische Erinnerungen an die Judenverfolgung hätten und die historischen Vorgänge nicht rational beurteilen könnten, behauptete in den 1980er-Jahren der damalige Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Martin Broszat, und löste damit eine hitzige Debatte aus. Friedländer hatte darauf scharf zurückgefragt, ob Historiker wie Broszat, die einst bei der Hitler-Jugend gewesen seien, sich besser erinnern könnten. Weitaus unangenehmer war Friedländers Begegnung mit dem Historiker Ernst Nolte* in Berlin, der seinen jüdischen Historikerkollegen mit der provozierenden Frage anging: „Was heißt es eigentlich, ein Jude zu sein? Ist das eine Frage der Religion oder der Biologie?“ Laut Friedländer verbargen Broszat und Nolte hinter dem Begriff „Historisierung des Nationalsozialismus“ die Absicht eines Paradigmenwechsels in der NS-Forschung – und damit die Relativierung vieler Verbrechen. Auch 25 Jahre nach dem „Historikerstreit“ meinte er verbittert: „Na ja, irgendwann wird man Bücher über das ‚Dritte Reich‘ und den Holocaust so lesen wie heute Cäsars Gallischen Krieg. So wird es kommen, da hilft nichts.“

Die Prager deutschsprachigen jüdischen Eltern von Pawel waren nicht religiös. Vater Jan Friedländer kämpfte im Ersten Weltkrieg als habsburgischer Artillerieoffizier, war Jurist und Vizepräsident einer deutschen Versicherung; Mutter Elli war die Tochter eines Textilfabrikanten.

„Die Juden kamen ja meist nur als Opferzahlen vor. Ich
wollte den Ermordeten ihre Stimme zurückgeben.“
Saul Friedländer

 

Bis 1939 verbrachte Pawel Friedländer seine Kindheit in Prag und besuchte dort ab 1938 eine englische Privatschule. Als die Deutschen im März 1939 die Tschechoslowakei besetzten, beschließen die Eltern, nach Frankreich zu fliehen, erklären ihrem Sohn aber nicht, dass sie dies tun, weil sie Juden sind.

Nach der Besetzung von Paris durch deutsche Truppen rettet sich die Familie in den Süden Frankreichs, in den unbesetzten Teil des VichyRegimes. Als die Deutschen 1942 auch dort einrücken, verstecken seine Eltern Pawel im katholischen Internat Saint-Béranger in Montulçon und stimmen einer Taufe zu: Friedländer bekommt den Namen Paul-Henri Ferland. Die Eltern selbst hoffen, in der neutralen Schweiz Zuflucht zu finden, aber die Zollbeamten lehnen sie an der Grenze ab, weil die Schweiz 1942 nur jüdische Flüchtlinge mit kleinen Kindern und schwangere Frauen aufnahm. Nach Frankreich zurückgekehrt, werden sie deportiert und im Konzentrationslager Auschwitz vergast. Erst 1946 erfährt Friedländer das Schicksal seiner Eltern. Der Gedanke, dass sie ihn beim Versuch, in die Schweiz zu gelangen, nicht mitgenommen hatten, weil sie es für zu gefährlich hielten, wird ihn sein Leben lang begleiten: „Zum ersten Mal fühlte ich mich als Jude – wenn ich dort gewesen wäre, wären alle gerettet worden.“

Nach 1946 wird sich Friedländer seiner jüdischen Identität bewusster und Zionist. Er ist sowohl ein kommunistischer Sympathisant wie auch ein zionistischer Militant in den Habonim, dann im Betar, einer Bewegung, die mit Begins Irgun liiert ist. Nach der Proklamation des Staates Israel beschließt er, dorthin auszuwandern. Als er im Juni 1948 auf dem historischen Altalena-Schiff** ankommt, wird er gefragt, ob er einen hebräischen Vornamen hat. Da er dank seiner katholischen Ausbildung weiß, dass Saul auf dem Weg nach Damaskus Paulus geworden war, wählt er Saul als seinen Vornamen. Nach Abschluss der High School diente er in den israelischen Streitkräften. Von 1953 bis 1955 studierte er Politikwissenschaft in Paris, später promovierte er am Graduate Institute of International Studies in Genf, wo er auch bis 1988 lehrte. Friedländer war Sekretär von Nachum Goldman, dem damaligen Präsidenten der World Zionist Organization und des World Jewish Congress. 1959 wurde er Assistent des damaligen Vizeverteidigungsministers Shimon Peres. Friedländer unterrichtete auch an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der Universität Tel Aviv. 1988 wurde er Professor für Geschichte an der University of California in Los Angeles. Bereits Ende der 1980erJahre war Friedländer politisch kritischer und arbeitete aktiv in der Gruppe Peace Now mit.

Unselige Tradition. Kampfgeist bewies der junge Historiker Friedländer schon als Doktorand im Jahr 1960: Er besuchte den früheren Großadmiral Karl Dönitz in dessen Haus in Holstein, um diesen für seine Dissertation über den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg gegen Nazideutschland zu befragen. Am Ende des Gesprächs wollte Friedländer von Dönitz, der überzeugter Nationalsozialist und nach dem Tod Hitlers zehn Tage lang Reichspräsident gewesen war, erfahren, ob er etwas vom Mord an den Juden gewusst habe. Nein, antwortete ihm Dönitz, rein gar nichts. „Herr Großadmiral“, fragte Friedländer nach, „können Sie mir darauf Ihr soldatisches Ehrenwort geben?“ „Ja“, erwiderte Dönitz, „ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.“

Friedländer blieb dieser Aussage gegenüber skeptisch, denn es stand damals schon fest, dass der einstige Oberbefehlshaber der Kriegsmarine durchaus über die Judenvernichtung informiert war. Hat er nur gelogen? Oder hat er sich schlicht eingeredet, nichts gewusst zu haben, und dies schließlich für die Wahrheit gehalten? Saul Friedländer, der die Anekdote gern erzählte, wagt bis heute nicht zu entscheiden, welche Version zutrifft.

Während der 90 Jahre seines Lebens hat der jüdische Historiker zu viel Seltsames erlebt, um an einfache und nächstliegende Antworten zu glauben. Daher wehrt er sich auch jetzt, Parallelen zwischen dem Judenhass von einst und der Hetze gegen Muslime heute zu ziehen: „Zwischen beiden Phänomenen bestehen so grundlegende Unterschiede, dass ein historischer Vergleich nicht hilfreich ist. Antijudaismus und Antisemitismus sind zweitausend Jahre alt, deren unselige Tradition ist etwas anderes als die momentan tatsächlich wachsenden Vorurteile im Westen gegen den Islam.“ Friedländer weist vor allem darauf hin, dass die Juden eine verstreute Minderheit waren und sind, die seit Jahrhunderten in den christlich geprägten Mehrheitsgesellschaften lebten. Der Islam hingegen zählt heute weltweit über eine Milliarde Gläubige. „Das Osmanische Reich war seit dem späten Mittelalter eine expansionistische Großmacht: Die Türken standen zweimal vor Wien, die Angst vor ihnen hatte durchaus reale Grundlagen“, so der unermüdliche, streitbare Historiker.

* Ernst Nolte (1923–2016), Historiker und Philosoph, löste 1986 in der BRD eine zeitgeschichtliche Debatte um die Singularität des Holocaust aus.
** Altalena war der Name eines ehemaligen US-Landungsbootes, mit dem die revisionistische jüdische Untergrundorganisation Irgun (Etzel) im
Jahr 1948 während des Palästinakrieges Truppen und Kriegsmaterial an einem UN-Embargo vorbei nach Israel brachte.

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