Gerhard Amendt: Der liebevolle Zwang der jüdischen Väter

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Der Soziologe Gerhard Amendt spricht über die Besonderheiten der jüdischen Familie, der Orthodoxie und der Rolle von säkularisierten Ehepartnern mit Marta S. Halpert

wina: Sie haben als Soziologieprofessor an der Universität Bremen viele Jahre Genderforschung betrieben und wissenschaftlich dazu publiziert. Welche Beobachtungen konnten Sie in Bezug auf die Rolle des jüdischen Mannes machen. Worin würde dieser sich unterscheiden?

Gerhard Amendt: Für das jüdische Leben hat die Familie eine andere Bedeutung, und zwar eine viel stärkere Familienorientierung. Juden lassen sich nicht so oft scheiden wie die größere, allgemeine Bevölkerung, und das bringt große Vorteile sowohl für die Kinder als auch für die Erwachsenen. Durch diese Familienzentrierung haben die Männer natürlich auch ein erheblich intensiviertes Verhältnis zu den Kindern. Das ist klar erkennbar.

Woran ist das erkennbar?

Erstens durch den größeren Respekt vor den Kindern, aber auch vor den Wünschen der Kinder nach Entfaltung. Ich erinnere mich da an eine Szene im streng­orthodoxen Viertel von Jerusalem, in Mea Scharim, wo ein alter Jude vor Kindern niedergekniet ist und zur Begrüßung ihnen die Füße geküsst hat. Das ist vielleicht ein sehr extremes Beispiel, aber es zeigt einiges auf: einerseits die Achtung vor den Kindern, die Liebe zu den Kindern, aber auch, dass Juden nach einer durchgängigen Erfahrung in der Geschichte von Unterdrückung, Pogromen, Verfolgung und Ausrottungsversuchen nicht nur die Kinder hochschätzen, sondern auch wissen, wenn die Kinder nicht überleben, dann ist das Judentum zuende.

„Jüdische Männer machen offensichtlich keine Anstalten, Frauen von Bildung fernzuhalten.“

Deshalb bemühen sich die Väter so sehr, den Kindern in irgendeiner Weise – es muss ja nicht nur das streng Orthodoxe sein – etwas Jüdisches zu vermitteln als eine Kultur und Zivilisation, die jeden, der dazugehört, auszeichnet. Wenn man in der allgemeinen Bevölkerung vom „Fehlen der Väter“ * spricht, dann trifft diese Feststellung – nach meinen persönlichen Beobachtungen – für die jüdischen Väter nicht zu.

Wieso nicht? Was ist da anders?

In vielen Familien war es so und ist es immer noch so, dass zum Beispiel die Väter den Kindern das Schreiben, das Hebräische, beibringen. Was in der größeren Bevölkerung sonst der Lehrer tut, das tut hier der Vater und wird so zum ersten Lehrer.

Wird das Leben zuhause, die Erziehung, nicht von der Mutter stärker beeinflusst?

Die Mutter lebt mit den Kindern die jüdische Familienkultur, das heißt nicht nur, dass gekocht, koscher gegessen oder auch nicht koscher gegessen wird, sondern dass das Essen und das gemeinsame Leben eine Form der Kultur darstellt. Also das, was in unserer Gesellschaft bedrohlich abnimmt durch die Auslagerung dieser Betätigungen zu Dienstleistern, wird in der jüdischen Familie verstärkt wahrgenommen. Man weiß aus amerikanischen Studien, dass diese allgemeinen Prozesse, also das Abschleifen des Familiären, selbstverständlich auch auf die jüdische Bevölkerung übergreifen, aber doch weniger stark als auf die Gesamtgesellschaft.

Beschränkt der Vater durch diese traditionelle Autorität nicht auch die Freiheit des Kindes?

Das, was der Vater tut, beschränkt immer die Freiheit des Kindes, da das Lernen an sich ja eine Einschränkung der kindlichen Wünsche nach Unbekümmertheit und Freude ist. Als erster Lehrer des Kindes zwingt er diesem Enthaltsamkeit auf. Und er ist nicht bereit, darauf zu verzichten, weil er weiß, dass die Kinder sich dieses Wissen aneignen müssen, damit sie in der Kultur des jüdischen Lebens weiterhin leben, dieses auch fortführen und sich auch sonst bewähren können.

Könnte man das als liebevollen Zwang bezeichnen?

Ja, das ist ein liebevoller Zwang. An dieses Modell dachte auch Alexander Mitscherlich, als er darüber schrieb, wie etwa ein moderner Vater aussehen könnte. Dennoch wusste er, dass diese Wunschvorstellung angesichts der gesellschaftlichen Tendenzen keinen Bestand haben können.

Gilt das Vaterbild, das Sie zeichnen, nur für die orthodoxe Gemeinschaft? Lebt denn nicht auch das großteils säkularisierte Judentum nach diesen Vorgaben?

Meine Beobachtungen beschränken sich keineswegs nur auf die Orthodoxie. Im Gegenteil, ich spreche über das säkularisierte Judentum, das sich der Tradition wohl bewusst ist und weiß, dass bestimmte Erfahrungen nur innerhalb des Judentums gemacht werden können. Auch die säkularen Juden spüren diese Verantwortung. Und zwar nicht nur aus Ehrfurcht für die Autorität des Vaters, sondern für jemanden, der diese Geschichte in der äußeren Welt repräsentiert. Und sie wissen aus der Art und Weise, wie die Mutter jüdische Lebenskultur vermittelt, dass auch dies eine Kontinuität ist, die beide Elternteile erfordert.

Wie steht es um die Freiheiten der Frau in diesem traditionellen Familienbild?

Man kann sagen, dass jüdische Männer offensichtlich keine Anstalten machen, Frauen von Bildung fernzuhalten. Und je weniger Männer und Frauen nach den Religionsgesetzen leben, umso mehr fließt der alte Lerneifer in schulische Ausbildung und akademische Studien. Deshalb auch der hohe Akademikerstand unter Frauen wie Männern. Man darf auch nicht vergessen, dass das Studium der Schriften der Tora eine intellektuelle Anstrengung sondergleichen ist, und eine exquisite Schulung in Text­hermeneutik bedeutet: Von religiösen Inhalten befreit, wird jetzt diese Energie auf das säkulare Studium übertragen.

Ist Ihr jüdisches Vaterbild auch deshalb positiv behaftet, weil dieser noch Autorität besitzt?

Ich will das sicher nicht idealisieren, aber aktuelle US-Studien belegen, dass sich das Abschleifende bei den jüdischen Familien offensichtlich langsamer vollzieht. Die Scheidungsraten sind weit geringer. Der jüdische Mann hat im Durchschnitt – alle Ausnahmen sind möglich – eine stärkere Wertehaltung und ist daher in das kollektive Erlebnis von Jiddischkeit fester eingebettet. Das ist nicht immer vom Faktum her abrufbar, aber es ist jederzeit in der Erinnerung, im Gespräch rekonstruierbar. Denn die Geschichte der Juden, von ihrer Diskriminierung – noch die mildeste Form – bis zur Zwangstaufe und versuchten Ausrottung durch die Nationalsozialisten, schafft im Unbewussten ein Gemeinschaftsgefühl, das die normative Verankerung des Väterlichen im Jüdischen ausmacht.

Können Sie regionale Unterschiede ausmachen? Zum Beispiel im Vergleich USA zu Europa und Israel?

Juden außerhalb Israels sind etwas anderes. Und Israel ist sicher ein Fall für sich. Aber aus Studien der Brandeis-Universität wissen wir, dass dort bereits gegen die zu starke Säkularisierung Maßnahmen ergriffen werden: Institutionen übernehmen die jüdische Bildung, falls die Familien dazu nicht mehr imstande sind. Ich glaube, dass das Geschichtsbewusstsein von Juden so ausgeprägt ist, dass man sehr genau wahrnimmt, wann das Säkularisierende gefährlich werden könnte und in die Beliebigkeit übergeht.

Bildung per se kann doch keine Familien zusammenhalten?

Oh doch, Bildung ist nicht nur erlerntes Wissen. Bildung schafft nicht nur eine größere Fähigkeit, sich in Konflikten zu einigen, also das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, das kurzfristig Narzistische gegenüber dem Langfristigen auszuspielen. Faktum ist, dass jüdische Menschen später heiraten und daher die Entscheidung für die Familie ernsthafter und entschlossener angegangen wird. Gerade die Bildung schafft für viele Juden die Voraussetzungen dafür, dass – bei aller menschlichen Anfälligkeit – die Familienkultur doch beständiger ist. Denn ihr Geschichtsbewusstsein ist, schon aus der Not und der Erfahrung heraus, viel ausgeprägter als jene der Deutschen und Österreicher, die mit ganz schrecklichen Sachen so umgehen, dass sie sagen, „lieber vergessen als erinnern“, während der Jude sagt: „Erinnern ist die Voraussetzung für das Überleben.“

ZUR PERSON
Dr. Gerhard Amendt ist Professor für Geschlechter- und Generationensoziologie und Gründer des gleichnamigen Instituts an der Universität Bremen, Berater internationaler Gesundheitsorganisationen, Filmemacher und Autor zahlreicher Bücher. Soeben ist Von Höllenhunden und Himmelswesen erschienen.

*Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich thematisierten in ihren Forschungen bereits 1977 das „Fehlen der Väter“

Foto: © Reinhard Engel

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