Wiener jüdische Identität und weißer Muschelkalksandstein

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In Wien boomt das jüdische Leben – eine neue Lebensart entwickelt sich mit rasanter Geschwindigkeit. Gleichzeitig verfallen die letzten unmittelbaren Zeugen des früheren jüdischen Alltags. Das soll sich nun ändern, beschlossen Kultusgemeinde und Stadtverwaltung im letzten Herbst. Eine Serie von Tina Walzer

Im September 2013 schloss die Israelitische Kultusgemeinde Wien mit der Gemeinde Wien eine Vereinbarung zur Pflege der jüdischen Friedhöfe für die nächsten zwanzig Jahre ab – nach mehr als einer Dekade zäher Verhandlungen ein beachtlicher Erfolg. Der Grundstein zur Aufrechterhaltung der Areale ist also gelegt. Die konkrete Umsetzung von Maßnahmen bleibt der Grundeigentümerin überlassen, und hier kommt neuerdings ein Meinungsbildungsprozess in Gang. Zielvorstellungen sollen entwickelt werden – jüdische Friedhöfe erhalten, aber wozu, und was genau soll sichtbar, soll bestehen bleiben?

Jeder ist aufgerufen zu fragen, welche Bedeutung die historischen jüdischen Friedhöfe für die junge jüdische Gemeinde in Wien haben könnten. Sobald die Zielvorstellungen definiert wurden: Was will ich erhalten, wie soll das aussehen, soll das jemand sehen dürfen, wird es Besucher aus dem In- und Ausland geben, kann an eine Umsetzung gedacht werden. Auf Grundlage der Restaurierziele werden dann gemeinsam mit Fachleuten Maßnahmen definiert und Konzepte erarbeitet. Bevor es soweit sein kann, wird aber wohl zuerst einmal eines überlegt werden: der emotionale Zugang. Während an der religiösen Verpflichtung zur Erhaltung der Areale keine Zweifel bestehen, fällt die Frage nach dem persönlichen Bezug zu den hunderttausenden verlassenen Grabstätten schon schwerer, geht es hier doch um die eigene Identität.

Die Wiener jüdische Gemeinde

macht in den letzten Jahren einen erstaunlichen Wandel durch. Die Epoche der Nachkriegszeit scheint endgültig vorbei. War diese durch die Überlebenden geprägt, die der Umwelt ihr „Trotz allem bin ich hier!“ entgegenschleuderten und nach außen hin abgeschottet in ihrer kleinen, überalterten Gemeinde lebten, so bewegen sich heute junge Juden in Wien mit einer Selbstverständlichkeit, die noch vor Kurzem unvorstellbar schien. Das Recht, hier zu sein, hier zu leben wie alle anderen, hier zu Hause zu sein, ziehen die Jungen gar nicht erst in Zweifel, und die Identifikation mit der Umwelt fällt dadurch sichtlich leicht. Aber, und das ist erstaunlich, auch die Auseinandersetzung mit deren Vergangenheit (die ja einen starken jüdischen Anteil hat) rückt dadurch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Erstmals seit Generationen ist es möglich, sich mit neugieriger Unbefangenheit der Wiener Geschichte zu nähern, auf der Suche nach dem Schlüssel zu Wiens Attraktivität.

Die jüdische Geschichte Wiens ist nicht mehr ausschließlich die Geschichte dreier Vertreibungen.

Das trotzige „Juden waren immer da, an diesem Ort, und Punkt“, das nie in Details ging, wird von einem neuen Narrativ abgelöst: Es ist schön zu sehen, wie Juden in der Vergangenheit an diesem Ort gelebt haben, denn für mich, in der Gegenwart, ist es auch schön hier! Die jüdische Geschichte Wiens ist nicht mehr ausschließlich die Geschichte dreier Vertreibungen, es ist auch die Geschichte von Kooperation und Erfolg.

Im Sichtbaren bedeutet das – statt Beton – die Rekonstruktion. Hatte Rachel Whiteread mit ihrem Holocaust-Mahnmal auf dem Wiener Judenplatz noch postuliert: Das einstige jüdische Wohnzimmer ist ein für alle Mal unbetretbar, unvorstellbar und verschwunden, rücken jetzt die echten Zeugen des damaligen Alltags ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es gibt sie: Vergessen, doch stumm und steinern stehen sie da. Die Grabmonumente sind die tatsächlichen Spiegel der untergegangenen Welt. Nicht mühseliges Imaginieren ist da gefragt, sondern Rekonstruktion, um das, was da ist, mit Res­pekt und Stolz in den eigenen Alltag integrieren zu können.

Zeugen der Vernichtung

Waren die jüdischen Friedhöfe bisher eine Last, jeder umgefallene Grabstein ein schmerzvoller Mahner der Zerstörung, blieb der Umgang auf das nötige Minimum, die Position des absolut Unumgänglichen, beschränkt. Bildungsbürgerlich Bewegte konstatierten einen demonstrativ antiästhetischen Zugang bei Fragen der Reparatur. Mit Fliesenkleber notdürftig (und allzu oft auf dem Kopf stehend) zusammengeklebte Schriftfragmente und den Einsatz von großen Mengen Beton, da­rauf schien sich das Interesse an den steinernen Zeugen zu beschränken.

Es ist mehr als die Vernichtung – es ist blühendes Leben!

Tatsächlich mangelte es wohl an der emotionalen Bindung – handelt es sich (mit Ausnahme weniger Rückkehrer) ja tatsächlich auch nicht um Gräber eigener Vorfahren. Deren Abwesenheit war mitunter in direkte Ablehnung umgeschlagen, in einer Umdeutung der steinernen Zeugen der Vergangenheit zu Zeugen der Vernichtung. Eigene Traumata wurden auf Friedhöfe projiziert – nicht umsonst ressortiert der Friedhofsfonds des Bundes zum Bereich „Entschädigung von Holocaust-Opfern“. Damit haben die jüdischen Friedhöfe wirklich nur am Rande zu tun. Sie repräsentieren ja Perioden des fruchtbaren Zusammenlebens von Juden mit ihrer nichtjüdischen Umwelt. Erst ein unverkrampfter Zugang mit neuem Selbstbewusstsein ermöglicht einen unverstellten Blick auf die Sache an sich. Der Grabstein und seine Form dienen aus dieser Perspektive nicht als Dekoration – seine Funktion ist als soziales Symbol für Einverständnis mit der Umgebung zu sehen.

Als solches ist der Grabstein in seiner historischen Form auch ein Zeugnis, und deshalb nicht überflüssig, sondern bewahrenswert. Wenn es wichtig ist zu erinnern, so ist nicht nur der ideelle Aspekt alleine, sondern auch die Form ein notwendiges Element für das Erinnern wesentlicher Aspekte der Vergangenheit.

Historische Dimension

Die Artikel der folgenden Hefte werden um die Gründerfamilien der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde kreisen, seinerzeit, im Vormärz, unmittelbar vor der bürgerlichen Revolution in Österreich: 1829 wurden die ersten Statuten bestellt. Die Tatsache, dass damals die IKG Wien begründet wurde, mit allen rechtlichen Implikationen, ist natürlich immer schon wichtig für die heutige Gemeinde. Neu ist die Neugierde: Wer war denn das überhaupt damals? Jetzt geht es um die Lebensgeschichten, die Personen und ihre Werke – zum Vergleich, zur Stärkung der jüdischen Identität: Wiener Juden, so fühlt sich das also an. Es ist mehr als die Vernichtung – blühendes Leben!

Veranstaltungen am jüdischen Friedhof Währing:
Freiwilligentage jeweils 11 bis 16 Uhr:
11.5., 6.7., 14.9., 2.11.2014
Führungen: 30.3., 18.5., 25.5.2014
Anmeldung: karin.binder@gruene.at
Areale in der Seegasse, am Döblinger Friedhof und am Zentralfriedhof sind frei zugäng

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