Eine Mischung aus Stolz, Loyalität und Angst

1963

Das Leben der rund 20.000 Juden in der Türkei spiegelt alle Merkmale einer Diaspora-Gemeinde wider. Von Marta S. Halpert

Wieder einmal wurden sie allein gelassen. Sie fassten aber Mut und marschierten gemeinsam zur renovierten Neve Schalom Synagoge, um an den 10. Jahrestag des Bombenanschlags Ende 2003 zu erinnern. Mit Blumen und Fotos der Ermordeten sowie roten Kippot und gleichfarbigen Schals bildeten Männer und Frauen eine breite Front der Entschlossenheit: „Ich bin hier“, war auf Türkisch und Hebräisch auf ihren Kippot zu lesen. Weder regierungstreue Medien noch offizielle Vertreter fanden es wert, sich mit den jüdischen Bürgern Istanbuls zu solidarisieren. Neve Schalom – die Oase des Friedens – wurde damals zu einem tödlichen Inferno: 57 Tote und mehr als 700 Verletzte lautete die Schreckensbilanz, nachdem türkische Selbstmordattentäter mit al-Qaida-Anbindung die mit Sprengstoff beladenen Busse in zwei historische Synagogen gerammt hatten.

Trauernde, 10 Jahre nach den Attentaten in Istanbul. Am 15. November 2003 explodierte jeweils eine Autobombe vor Istanbuls größter Synagoge Neve Shalom (Beyoğlu, früher Galata-Viertel) sowie der fünf Kilometer davon entfernten Synagoge Beth-Israel. 24 Menschen kamen ums Leben, mehr als 240 Personen wurden zum Teil schwer verletzt.
Trauernde, 10 Jahre nach den Attentaten in Istanbul. Am 15. November 2003 explodierte jeweils eine Autobombe vor Istanbuls größter Synagoge Neve Shalom (Beyoğlu, früher Galata-Viertel) sowie der fünf Kilometer davon entfernten Synagoge Beth-Israel. 24 Menschen kamen ums Leben, mehr als 240 Personen wurden zum Teil schwer verletzt.

Unter den Opfern des Anschlags waren eine hochschwangere Frau, ein zehnjähriges Mädchen und ein 19-jähriger Freiwilliger, der während einer Bar-Mitzwa-Feier die Tempeltüre bewachte. Die Gedenkrede Ende November 2013 hielt Dani Baran, ein Überlebender, der auch als freiwilliger Sicherheitsmann am Tatort war. „Die Terroristen kämpften im Namen Allahs und töteten unschuldige Menschen, die zum gleichen G-tt für eine friedvollere Welt beteten.“ Baran zählte eine Reihe antisemitischer und minderheitenfeindlicher Vorfälle in der Türkei auf und kritisierte die anderen Überlebenden wegen ihrer Weigerung, über die aktuellen Ereignisse in ihrem Land mit der jüngeren Generation zu sprechen. „Kein Jude in der Diaspora kann existieren oder sich verteidigen, ohne seine eigene Geschichte zu kennen. Unser Leben hat nur einen Sinn, wenn wir ohne Angst aufzeigen, dass wir hier sind und frei unsere Meinung sagen.“ Daraufhin rief der Präsident der türkisch-jüdischen Gemeinde, Isaak Ibrahimzadeh, seine Mitglieder auf, kleine Differenzen untereinander zugunsten eines größeren Zusammenhalts aufzugeben.

„Das Beste, was ein Jude heute in der Türkei machen kann, ist, den Mund zu halten und möglichst unsichtbar zu sein.“ Isaak Alaton

Differenzen gibt es auch in Bezug auf die kolportierte Auswanderung von türkischen Juden auf Grund des ansteigenden Antisemitismus und den Spannungen mit Israel. „Hunderte junge Juden verlassen die Türkei in Richtung Europa und USA“, erklärte Nesim Güvenis, Vizevorsitzender des Vereins der türkischen Juden in Israel, in einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Hurriyet. „Schauen Sie sich an, wie wir jetzt in der Türkei ausgegrenzt werden: Ich bin mehr türkisch als viele andere, aber sie glaubten uns das nie“, so Güvenis, der die Gegenwart und Zukunft der geschätzten 17.400 bis 22.000 türkischen Juden ziemlich düster sieht. Ihm widerspricht der jüdische Journalist Metin Delevi kategorisch: „Es gibt ganz sicher keinen Anstieg bei der Zahl der Auswanderer“; und dann fügt er noch diplomatisch hinzu: „Als Bürger dieses Landes hoffen wir alle auf eine friedliche Lösung der derzeitigen Konflikte.“

Jüdischer Fethullah-Gülen-Freund

Einen ganz besonderen Gesprächspartner entdeckte die amerikanische Journalistin Jenna Krajeski bei ihrem jüngsten Lokalaugenschein in Istanbul.

Isaak Alaton, ein erfolgreicher jüdischer Unternehmer, verriet sein Rezept: „Das Beste, was ein Jude heute in der Türkei machen kann, ist, den Mund zu halten und möglichst unsichtbar zu sein.“ Alaton steht dem islamischen Gelehrten Fethullah Gülen nahe, der aus seinem selbst gewählten Exil in Pennsylvania, USA, derzeit gegen seinen ehemaligen Weggefährten und heutigen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan um Einfluss in der Türkei kämpft. „Gülen ist kein Antisemit“, verteidigt Alaton seinen Freund, räumt aber ein, dass es im Land selbst schon einen latenten Antisemitismus gebe. „Die Bürger Israels und der Türkei wären viel bessere Partner als ihre respektiven Regierungschefs“, erklärte Alaton bei seiner Eröffnungsrede anlässlich einer Konferenz über Juden in der Türkei an der Kadir-Has-Universität. Bei dieser Gelegenheit kritisierte er die israelische Regierung und Benjamin Netanyahu scharf wegen ihrer Palästinenserpolitik. Doch die Rechnung, die lokale Gemeinde und Israel im Bewusstsein der türkischen Öffentlichkeit auseinanderzuhalten, scheint nicht aufzugehen. „Ich habe unlängst gehört, dass ein Türke einem jüdischen Geschäftsmann Geld schuldete, ihm aber nur die Hälfte zurückgab, mit dem Hinweis, ‚den Rest habe ich für Gaza gespendet‘.“ Das berichtete eine junge Jüdin der amerikanischen Reporterin.

… aber es war nicht immer so

Die Geschichte der Juden in der Türkei reicht bis 1492 zurück und ist eine mehrfache Geschichte der Rettung: Das katholische Spanien vertrieb mehr als 100.000 Juden, und das Osmanische Reich nahm die gebildeten „Sefarden“ mit offenen Armen auf. „Sein Land lässt er verarmen und meines bereichert er“, wunderte sich Sultan Beyazit II. über den spanischen König. Später flüchteten aschkenasische Juden vor den Pogromen in Osteuropa zu den Osmanen.

„Das Beste, was ein Jude heute in der Türkei machen kann, ist, den Mund zu halten und möglichst unsichtbar zu sein.“ Isaak Alaton

Während der Nazi-Zeit wurde die damals junge Türkische Republik auch zum Zufluchtsort für viele Juden aus Deutschland und Österreich. Staatschef Mustafa Kemal Atatürk öffnete sein Land und dessen Universitäten für jüdische Flüchtlinge. Als erstes Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung erkannte die offizi­ell lai­zistische Türkei 1948 den neuen Staat Israel an. In der Folge kooperierten nicht nur die Militärs, sondern auch die Geheimdienste höchst erfolgreich miteinander.

Erst mit dem regionalen strategischen Machtstreben des derzeitigen Ministerpräsidenten und dem Vorfall mit der Mavi-Marmara-Gaza-Flotilla im Mai 2010 verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Darüber können auch die 26 aktiven Synagogen in Istanbul, die jüdischen Schulen, Krankenhäuser und Altersheime hinwegtäuschen. Vieles vom Stolz der angesehenen sefardischen Gemeinde ist mit der latenten Angst verloren gegangen. Nicht wenige sind der Ansicht, dass die aktuelle Politik und ihre ständig propagierten Verschwörungstheorien nur eine Absicht verfolgen, nämlich, die Juden gar nicht sanft aus dem Land zu treiben.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here