Vom „Brudermord“ zur Drag Queen

Ist Israel ein normales Land? Diese Frage umkreist der Soziologe Natan Sznaider in seinem neuen Buch in zehn Bildern, exemplarische Milieustudien, die verschiedene Gesellschaften des Landes ausleuchten.

4138
Nike Thurn: Natan Sznaider: Gesellschaften in Israel. Eine Einführung in zehn Bildern. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 318 S., € 28,80

Bilder von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Charedim und der berittenen Polizei, vom Widerstand militanter Siedler gegen israelische Soldaten geben der Welt eine Ahnung von den Spannungen, in dem dieses Land auch abseits seiner politischen Feinde lebt.

Ikonografische Ereignisse. Das 20. Jahrhundert endete für Israel in einem nationalen Trauma. „Die Opferung Jitzchak Rabins“, wie Sznaider den „Brudermord“ biblisch beziehungsreich bezeichnet, veränderte 1995 das Land. Unblutig und weniger nachhaltig erschütterten die sozialen Proteste einer jungen global orientierten Generation, der sich ein großer Teil der Bevölkerung anschloss, im Sommer 2011 das gesellschaftliche Gefüge. Es sind solche ikonografischen Ereignisse in der jüngeren Geschichte Israels, die Sznaider detail- und kenntnisreich ausbreitet und untersucht. Woher kamen sie, und welche Folgen hatten sie?

Dabei blendet er zurück auf den Holocaust, seine Narrative und seine Bedeutung von der Staatsgründung bis zur heutigen Politik. Und landet in einem weiten Bogen beim Problem von Sprache, Kultur und Nation.

Nur wenige Jahre nach Rabins Tod bejubelte das Land einen Sieg mit ganz friedlichen Folgen. Beim Eurovision Song Contest 1998 gewann die israelische Drag Queen Dana International. Wie sich dieser Erfolg nicht nur auf die israelische Schwulenszene, sondern darüber hinaus gesamtgesellschaftlich auf die Rollenbilder der Geschlechter auswirkte, verfolgt Sznaider eindrucksvoll. Heute stellt sich das Land gern als liberale Insel im intoleranten Raum des Nahen Ostens dar, und seine „Gay Parade“ ist längst ein Tourismusmagnet.

»Nicht der Konflikt ist überraschend,
sondern die Stabilität.«
Natan Sznaider

Der arabisch-israelische Fußballstar Walid Badir spielte in der israelischen Nationalmannschaft und sang die „Hatikwah“ mit. Doch was bedeuten deren Worte von der jüdischen Seele für die rund 1, 7 Millionen israelischen Araber? Das rührt an die Kernfrage des Staates, auf die Sznaider immer wieder zurückkommt, die Frage der jüdisch-israelischen Identität. Das „Land Israel“ dem „Volk Israel“, die Formel der Gründerväter, in der „Metaphysik und Politik miteinander verschmelzen“, ist bis in die aktuelle Siedlerproblematik wirksam. Was die einen als „Besatzung“ bezeichnen, verstehen orthodoxe Siedler als Rückkehr ins eigene Land. Säkulare Bürger hingegen wollen in einem demokratischen „Staat Israel“ leben, der aber, darin sind sich die meisten einig, ein jüdischer sein soll.

Inmitten all dieser unauflösbaren Spannungen findet in Israel der „zionistische Alltag“ statt, wollen die meisten Menschen ein möglichst ideologiefreies Familienleben führen, was ihnen der Staat und seine inhomogene, disparate Bevölkerung aber nicht gerade einfach macht. Das Land ist „zu einer Melange der verschiedenen sprachlichen und kulturellen Gruppen geworden, die letztlich durch gegenseitige tiefe Abneigung zusammengehalten werden. Nicht der Konflikt ist überraschend, sondern die Stabilität“, stellt Sznaider fest. In seiner letztlich erzwungenen Toleranzkultur könnte Israel aber sogar ein Vorbild sein.

Die Ausgangsfrage, wie „normal“ Israel ist, muss man ganz jüdisch mit einer Gegenfrage beantworten. Wie normal kann ein Land sein, in dem gar nichts als gegeben gilt? Denn: „Dass Juden hier in diesem Land leben, dass Juden vielleicht überhaupt leben, ist nicht einfach eine gegebene Tatsache.“

Kritisch, aber liebevoll, zuweilen sogar amüsant, untersucht der in Deutschland geborene Soziologe Natan Sznaider immer noch staunend das Phänomen Israel und seiner Menschen. Dass es keine Erfüllung des zionistischen Gründertraums ist, hat er bereits gemeinsam mit Doron Rabinovici im Diskurs Herzl reloaded festgestellt. Will man das Land eher verstehen als beurteilen, dann ist diese Betrachtung von Sznaiders Bildern eine großartige Möglichkeit. 

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here