Scheinehen als Lebensretter

Das Jüdische Museum Wien zeigt seit Mitte Mai in ihren Schauräumen im Museum Judenplatz unter dem Titel Verfolgt. Verlobt. Verheiratet eine von Irene Messinger und Sabine Bergler kuratierte Ausstellung über Scheinehen österreichischer Frauen, die vom NS-Regime ab 1938 verfolgt worden waren. Im Gespräch mit WINA erzählt die seit vielen Jahren in der Migrations- und Exilforschung tätige ehemalige Sozialarbeiterin Irene Messinger über die wichtigsten Aspekte bei der Gestaltung dieser dichten und berührenden Schau.

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WINA: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Scheinehen, während des Nationalsozialismus, aber auch bis in die Gegenwart hinein. Wie kamen Sie zu diesem Forschungsgebiet?
Irene Messinger: Zu dem Thema an sich bin ich über meine Arbeit als Sozialarbeiterin in der Flüchtlingsberatung gekommen. Für Menschen ohne Aufenthaltsstatus war eine Ehe mit einem Österreicher oder einer Österreicherin lange Zeit eine der wenigen Möglichkeiten, sich zu legalisieren. Doch nur bestimmte Paare wurden kontrolliert, ob die Ehe auch tatsächlich gelebt wurde. Im Zuge der Kriminalisierung mit dem Fremdenrecht 2006, durch die das Eingehen von Scheinehen zu einem strafrechtlichen Delikt wurde, hat mich interessiert, welche Ehepaare verdächtigt, kontrolliert und angezeigt wurden, wer ein Strafverfahren hatte und letztlich auch bestraft wurde. Immerhin sind „Aufenthaltsehen“, wie sie heute genannt werden, mit bis zu einem Jahr Haft bedroht.

Sie haben 2012 Ihre Dissertation über Scheinehen im Wiener Mandelbaum Verlag herausgebracht. Wie weit hat das Buch mit Ihrem derzeitigen Forschungsgebiet zu tun?
Die Dissertation widmete sich vor allem der Gegenwart, doch es war wichtig, auch den rechtshistorischen Hintergrund aufzuarbeiten. Das Phänomen Scheinehe gibt es schon länger, in der Zeit des Nationalsozialismus gewann das Thema erneut an politischer Brisanz ‒ und für verfolgte Frauen an enormer Bedeutung für ihr Überleben. Warum sich vor allem Frauen durch eine Scheinehe retten konnten, hat einen rechtlichen Grund: In den meisten Ländern galt die Regelung, dass Frauen automatisch die Staatsbürgerschaft ihres Ehemannes erhielten und dann mit dieser ausreisen beziehungsweise im Exilland bleiben konnten.

Zudem konnte ich feststellen, dass dieser Aspekt noch nicht wissenschaftlich untersucht war.

Nach Abschluss meiner Dissertation habe ich 2013 bis 2016 dank der Förderung durch Zukunftsfonds und Nationalfonds intensiv mit biografischen Zugängen über Scheinehen während der NS-Zeit gearbeitet. Durch Hinweise von KollegInnen und Nachkommen bin ich so auf immer neue Fälle aufmerksam geworden, bis ich über 100 Biografien gesammelt hatte.

Für die aktuelle Ausstellung im Jüdischen Museum haben Sie sich mit dem Leben von 13 Frauen auseinandergesetzt, die vom NS-Regime verfolgt wurden und für die Scheinehen die einzige Hoffnung auf ein Überleben blieb. Welche Kriterien gab es für die Auswahl gerade dieser Lebenswege?
Der Fokus bei der Auswahl lag zum einen darauf, Frauen mit Wien-Bezug zu finden, Frauen, die entweder hier geboren und aufgewachsen sind oder hier ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatten. Zum anderen haben Sabine Bergler vom Jüdischen Museum und ich versucht, eine relativ repräsentative Auswahl zu treffen, was die Exilländer betrifft, in die diese Frauen gegangen sind, also der Schweiz über England, Frankreich, Palästina bis Ägypten. Und wir wollten Frauen unterschiedlichen Alters zeigen: Zwar waren die meisten zwischen 20 und 30 Jahre alt, aber die Frauenrechtlerin Yella Hertzka war bereits 65, als sie ihren tschechischen Cousin heiratete.

Es war uns auch ein Anliegen, eine Mischung aus prominenten Frauen und bislang unbekannten Biografien zusammenzustellen, sodass sich in der Ausstellung so bekannte Namen wie die Musikerin Alma Rosé oder die Theaterpionierin Stella Kadmon finden. Wir wollten aber auch Scheinehen von Frauen zeigen, die bislang nur in der Familie bekannt waren: zum Beispiel die Tänzerin Anita Bild, die heiratete, um in England auftreten zu dürfen oder Rosl Ebner, deren Brüder einen Franzosen bezahlten, der sie in Wien heiratete und auch sie über Paris nach London fliehen konnte. Interessanterweise kannten Rosl Ebner und Anita Bild einander: Ihre Söhne trafen einander letztes Jahr in Wien durch meine Vermittlung. Und kürzlich trafen mehrere Nachkommen im Museum zusammen ‒ das sind die berührenden Momente einer zeitgeschichtlichen Forschungsarbeit.

Eine weitere interessante Entdeckung war die der Doppelscheinehe von Minna und Otto Roth: Ich habe 2014 einen Vortrag zu diesem Thema im Maimonides-Zentrum in Wien gehalten, und nach meinem Vortrag kam eine Dame zu mir und erzählte: „Auch meine Mutter und mein Vater sind eine Scheinehe eingegangen.“ Sie heirateten jeweils einen anderen Partner, um zwei weiteren Personen die Ausreise nach Palästina zu ermöglichen. Und auch Sarah Berger heiratete für ein Visum nach Palästina und reiste mit ihrem Cousin aus.

Manche Frauen gingen eine Scheinehe mit einem Ausländer ein, um Wien noch rasch verlassen zu können, darunter die Kommunistin Anna Friedler, die nur durch einen brieflichen Heiratsantrag eines französischen Jugendfreundes ihre Dokumente erhielt und wenige Tage hatte, um auszureisen. Andere Frauen heirateten bereits im Exil: Ihr Aufenthalt war unsicher, manche fürchteten die Abschiebung in das Deutsche Reich, und sie hatten kaum die Chance, sich ein neues Leben aufzubauen, weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt war. Die Scheinehe bot oft genau diese Möglichkeit, die berufliche Karriere fortzusetzen.

Welche Motive hatten Männer, sich auf eine Scheinehe einzulassen?
Die Motivlage der Ehemänner war breit gestreut, von der Bezahlung über reines Mitgefühl, familiäre Verbundenheit, aber auch aus politischen Gründen, also als Akt des Widerstands, der Solidarität unter Gleichgesinnten, wie im Falle von Hilda Monte. Sie war zuvor im internationalen sozialistischen Kampfbund aktiv und konnte ihre antifaschistischen Aktivitäten im Exil fortsetzen, da sie durch die Ehe mit einem homosexuellen Genossen Britin geworden war. Da Homosexualität damals ein Straftatbestand war, konnte eine Scheinehe auch dem Ehemann nützen, weil er so seine sexuelle Orientierung verbergen konnte.

Bezahlung war aber sicher ein wichtiges Motiv, auch wenn nicht oft darüber berichtet wurde. Die Kunsthistorikerin Hilde Zaloscer, die in Ägypten eine interreligiöse Scheinehe einging, erzählte, dass zwei Tranchen vereinbart waren: eine bei der Hochzeit, die zweite bei der Scheidung. Die meisten Paare gingen zwar unmittelbar danach ihre eigenen Wege und sahen sich erst bei der Scheidung wieder, aber es gab auch Fälle, in denen der Scheinehepartner zum Freund der Familie wurde. Es konnte jedoch auch ganz anders verlaufen: Das Thema der Abhängigkeit vom Ehemann und von sexueller Gewalt wird von der Tänzerin Stella Mann angesprochen, die zum Vollzug der Ehe gedrängt wurde. Bei der Scheinehe von Stella Kadmon, die ihren Cousin in Belgrad geheiratet hatte, kamen die Behörden dahinter; ein Beamter ließ die Schauspielerin jedoch gegen Bezahlung eines teuren Visums dann doch ausreisen.

Es ist ein sehr vielfältiges Thema, und wir haben versucht, mit den ausgewählten Biografien so viele Aspekte wie möglich abzudecken, die bei meiner Auswertung von bislang 100 Fällen aufgetaucht waren. Nicht zuletzt hing die Auswahl auch davon ab, ob es geeignete Objekte gab, anhand derer sich die Lebensgeschichte erzählen ließ.

Inwieweit waren Scheinehen letztendlich eine erfolgreiche Strategie, um zu überleben?
Es wurde damals für die Flucht aus dem NS-Reich viel riskiert. Einige der in der Ausstellung vorgestellten Frauen kaufen sich ein Visum, nützten gefälschte Dokumente, einen Fluchthelfer oder verschiedene falsche Identitäten. Für die Flucht waren also oft rechtswidrige Handlungen notwendig. Doch nicht allen Frauen hat die Scheinehe das Überleben gesichert. In besetzten Gebieten wie Frankreich oder den Niederlanden konnte die Scheinehe nicht mehr den erwünschten Schutz bieten. Alma Rosé, damals verheiratet mit einem Niederländer, wurde 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie als Leiterin des Mädchenorchesters von Auschwitz ein Jahr später ums Leben kam. Die mit einem Italiener verheiratete Elisa Springer wurde 1944 verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert, doch sie überlebte. Die allermeisten Frauen konnten jedoch aufgrund ihrer Scheinehe ins Exil fliehen und dort überleben.

Es gibt bis heute keine genauen Zahlen, wie viele NS-verfolgte Frauen sich durch Scheinehen zu retten versucht haben. Wie sieht hier der aktuelle Stand Ihrer Recherchen aus?
Ich habe bisher über 120 Fälle gefunden und 100 ausgewertet. Ich könnte aber trotz meiner langjährigen Beschäftigung mit Scheinehen nicht seriös eine Zahl nennen, denn es kommen immer wieder neue Fälle zum Vorschein; auch durch die Ausstellung haben sich ein paar neue Fallgeschichten aufgetan. Die Ausstellungsarchitektin Gabu Heindl hat es sehr schön formuliert, als sie meinte, dass die leere Mitte in der Ausstellung für all jene Frauen steht, deren Geschichte nie erzählt werden konnte, die sie selbst nie erzählt haben.

Gibt es auch Geschichten, die Sie von Nachkommen erzählt bekommen haben?
Ja, manchmal war die Scheinehe eine beliebte Anekdote, wie in der Familie von Sarah Berger, in der erzählt wird, dass die Ehe am Schiff nach Palästina nicht sehr glaubwürdig gewesen sei, da ihr Scheinehemann an Bord ständig mit anderen Frauen flirtete. Manche der Nachkommen waren bei der Geburt formal die ehelichen Kinder in der Scheinehe, auch wenn sie einen anderen Vater hatten. Es war nicht so einfach, sich scheiden zu lassen, und später gar nicht so einfach, alle Dokumente wieder richtigzustellen und nach einer allfälligen Remigration die österreichische Staatsbürgerschaft für sich und die Kinder zu erhalten, davon berichtete die Familie von Anna Friedler, bei denen dieses bürokratische Procedere bis in die 1960er-Jahre dauerte. Was bemerkenswert war: Viele der 100 ausgewerteten Frauenleben blieben ohne Nachkommen. In der Lebensphase der möglichen Familiengründung, in ihren 20ern, 30ern, waren diese Frauen auf der Flucht, im Exil scheinverheiratet. Viele sind kinderlos geblieben. Die hohe Kinderlosigkeit von vertriebenen Frauen wurde auch in der Frauenbiografieforschung als wichtiges Thema erkannt, über das noch viel zu wenig geforscht worden ist.

Die relativ kleine Ausstellung ist konzise gestaltet und bietet einen sehr guten Einblick in die unterschiedlichen persönlichen Hintergründe für das Eingehen einer Scheinehe der im Zentrum stehenden Frauen. Wie sind Sie an die Konzeption der Schau herangegangen?
Es ist meine erste Ausstellung, und ich war sehr dankbar, dass ich sie gemeinsam mit Sabine Bergler vom jüdischen Museum machen konnte, die schon viel Erfahrung als Kuratorin hat. Und wir haben uns schon sehr früh mit der Ausstellungsgestalterin Gabu Heindl zusammengesetzt. So wurde die Dreiteilung gemeinsam entwickelt, die die Lebensstationen in den Frauenbiografien verdeutlichen: ihre Zeit in Wien, die Scheinehe selbst und das Leben danach, das häufig nur durch die Scheinehe ermöglicht wurde. Die Umsetzung erfolgte mittels kleiner ovaler und sich überlappender Tische, auf denen sich die Objekte und ihre Beschreibung befinden. Das Grafikerteam Toledo i Dertschei hat Pfeildiagramme beigesteuert, die schematisch die Flucht- und Migrationswege der Frauen nachzeichnen und auf die erzwungenen Brüche in den Biografien hinweisen. Wir haben ja meistens, auch heute, den Eindruck, dass jemand von hier nach da flüchtet, als gäbe es nichts dazwischen. Aber es gibt so viele Zwischenstationen, so viel Bewegungen von da nach dorthin.

Die Ausstellung bietet auch einiges an Film- und Tonmaterial.
Ja, wobei ich selbst keines dieser Interviews geführt habe, denn als ich zu dem Thema zu arbeiten begonnen habe, haben die Frauen nicht mehr gelebt, oft bin ich erst durch die Nachrufe auf sie aufmerksam geworden. Doch viele haben ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben oder erzählt. Viele Interviews mit Zeitzeuginnen wurden in den 1980er-Jahren geführt, und wir sind hier beispielsweise sehr dankbar für das Material, das das DÖW, das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, erhoben hat, etwa zu Hilde Zaloscer oder Anna Friedler, die auch in der Ausstellung vertreten sind und ausführlich über ihre Scheinehen erzählten. Aber auch das Jüdische Museum hat einiges schönes Material beigesteuert, von dem ich selbst bis vor Kurzem nichts wusste; so liegt z. B. auch ein Teilnachlass von Hilde Zaloscer hier, darunter auch ein Bild aus Ägypten.

Sie haben eben das DÖW und das Jüdische Museum erwähnt: Wie weit sind die Nachlässe dieser Frauen heute überhaupt in österreichischen Museums- und Archivbeständen aufgenommen?
Dieses Thema macht leider deutlich, dass es in Österreich immer noch kein Exilarchiv gibt. Denn wir stehen genau vor dieser Problematik: Die Kinder oder Enkel sind oft nicht daran interessiert oder leben nicht mehr, und die vierte Generation hat die exilierte Person gar nicht mehr gekannt, d. h. die nächsten Generationen werden das Material dann vermutlich entsorgen. Dass die Republik Österreich keinerlei Verantwortung übernimmt, ist fahrlässig und zeigt, wie dieses zeitgeschichtlich so bedeutende Material von Geflüchteten und Exilierten ignoriert wird.

Das heißt für die 13 Frauen in der Ausstellung gibt es bislang keine Archive, in den sich das Material nach dem Ende der Schau finden lässt?
Für die bekannteren Persönlichkeiten hat sich meist schon ein Platz in Archiven gefunden, doch was ist mit all den Nachlässen der anderen? Oft ist er verstreut zwischen den Exilländern und Familienangehörigen. Bei Elisa Springer gibt es die italienische Fondazione Springer, die den Nachlass verwaltet, da sie eine der prominentesten Zeitzeuginnen Italiens war – in Österreich ist die vertriebene Wienerin, die Auschwitz überlebte, jedoch vollkommen unbekannt. Bei Anita Bild und Stella Mann konnte ich viel Material in London finden. Hier zeigt sich genau das Problem: Weil es kein Exilarchiv in Österreich gibt, behalten sich in vielen Fällen Einzelpersonen oder Institutionen Teilbestände oder einzelne Erinnerungsstücke auf, sodass ganze Nachlässe unwiderruflich zerrissen wurden oder gar verloren gingen. Das ist eben, was ich auch an der politischen Verantwortung einmahne: Jetzt könnten diese Nachlässe noch gesammelt und archiviert werden. Die hier vorgestellten Frauen entstammten zumeist der Mittel- und Oberschichte, hier war das Material vergleichsweise leicht zugänglich, aber wo sind die Nachlässe von Arbeiterinnen und benachteiligten Frauen, die ebenfalls vertrieben wurden?

Es wird aktuell immer wieder auch die Frage diskutiert, wie weit man Fluchterfahrungen während der NS-Zeit mit heutigen vergleichen kann und darf. Sie beschäftigen sich nun seit vielen Jahren genau mit diesem Thema, mit Flucht heute und nach 1938. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion?
Vergleiche zwischen dem Nationalsozialismus und heute dienen häufig dazu, die Schoah zu relativieren. Das ist natürlich abzulehnen, denn die Situation selbst ist nicht vergleichbar, dennoch finde ich es wichtig, Parallelen zu ziehen. Wir haben doch den Anspruch, aus der Geschichte zu lernen. Das „Niemals wieder“ verstehe ich so, dass wir uns mit den Bedingungen von Verfolgung, Vertreibung und Flucht auseinandersetzen müssen. Damals mussten Menschen aus dem Deutschen Reich fliehen, heute ist Österreich ein Exilland, das Geflüchteten Schutz und Aufnahme bieten könnte. Die derzeitige Politik setzt jedoch darauf, Fluchtrouten zu schließen. Und wie wir an den Reaktionen auf die Rede von Michael Köhlmeier bei der Gedenkfeier am 5. Mai, bei der der Autor festhielt, dass sich Politiker, damals wie heute, damit brüsten, Fluchtrouten geschlossen zu haben, gesehen haben, sind solche Vergleiche emotional höchst aufgeladen. Aber wie sollen sich demokratische Staaten Geflüchteten gegenüber verhalten? Wir überlegen rückblickend immer, an welchem Punkt der Geschichte die freie Welt noch die Möglichkeit gehabt hätte, Menschen, die vom NS-Regime verfolgt wurden, aufzunehmen. Denken wir an den Sommer 1938 und die Flüchtlingskonferenz von Evian: Hätten all diese Staaten ihre Kontingente erhöht und Flüchtlinge aufgenommen, wäre die Zahl der in der Schoah ermordeten Menschen um Zehntausende geringer. Von manchen Exilländern wurden damals Listen erstellt ‒ für ausgewählte Flüchtlinge mit bestimmten Berufen. Und das ist etwas, das wir heute auch kennen. Wir nehmen nur die, die wir brauchen können. Dieses „Rosinenpicken“ bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist scharf zu kritisieren.
Eine weitere Parallele, die ich sehr wohl noch sehe, sind die Möglichkeiten, die Geflüchteten von den Staaten gewährt werden, in denen sie Schutz suchen: Sie dürfen nicht arbeiten, sie leben in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit, sie dürfen ihre Familienangehörigen nur unter schwierigsten Bedingungen nachholen, sie können einfach kein selbstbestimmtes Leben führen. Da verwundert es nicht, dass auch heute Menschen auf die Idee kommen, eine Aufenthaltsehe einzugehen, auch wenn es verboten und gefährlich ist. So erfreulich es ist, dass Scheinehen für die NS-Zeit retrospektiv als eine legitime Überlebensstrategie anerkannt werden: Sie waren damals in den Exilländern sehr wohl auch verboten.


Dr. Irene Messinger
Die Wiener Politikwissenschaftlerin Irene Messinger lehrt an der Universität Wien und an der Fachhochschule für Sozialarbeit zu den Themen Flucht und Migration, Migrationspolitik und -forschung, Politikwissenschaften, Gender sowie Sozialstaat und soziale Ungleichheit. 2012 erschien ihre mehrfach ausgezeichnete politikwissenschaftliche Dissertation Verdacht auf Scheinehe im Wiener Mandelbaum Verlag. Von 2013 bis 2016 leitete Messinger das Forschungsprojekt Scheinehen in der NS-Zeit, das u. a. 2014 mit dem Edith-Saurer-Preis ausgezeichnet wurde. 2017 erschienen die von ihr und Peter Bild herausgegebenen Memoiren von Anita Bild, A Cherry Dress (V&R unipress). Verfolgt. Verlobt. Verheiratet. Scheinehen ins Exil ist ihre erste Ausstellung, zu der auch ein von Messinger und Bergler herausgegebener umfangreicher zweisprachiger Begleitband erschienen ist.

Ausstellungsinfo
Verfolgt. Verlobt. Verheiratet. Scheinehen ins Exil. Ausstellung von 16. Mai bis 7. Oktober 2018 im Museum Judenplatz, So.‒Do., 10‒18 Uhr , Fr. 10‒17 Uhr

Kuratorinnen: Irene Messinger und Sabine Bergler, Gestaltung: Gabu Heindl/Toledo i Dertschei

http://www.jmw.at

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