Ein aufgeschobenes Leben

Die Überlebende Dita Kraus beschreibt in ihrer Biografie nicht nur ihre Kindheit in Prag, die Schrecken der Konzentrationslager und ihr Leben in Israel. Sie geht auch auf die familiären Brüche ein, die ein solches Leben mit sich bringt.

1463
Dita Kraus, die Holocaust-Überlebende am Remberance Day in Yad Vashem am 27 April 2013. © ABIR SULTAN / EPA / picturedesk.com

Die Veröffentlichungen von Lebensrückblicken Holocaust-Überlebender werden immer seltener. So werden solche Bücher zu etwas ganz Besonderem. Die zeitliche Distanz schafft nämlich wieder ein ganz anderes Erzählen als jenes unmittelbar nach der NS-Zeit, aber auch als jenes in den Nachkriegsjahrzehnten. Das Erzählen so viele Jahrzehnte später bezieht auch das mit ein, was bis in die 2000er-Jahre hinein passiert ist. So werden Brüche noch deutlicher.
Dita Kraus wuchs wohlbehütet in Prag auf, bis sie sich in Theresienstadt wiederfand. Schon zuvor hatte sie aber erlebt, was es heißt, ausgegrenzt zu werden: Die komfortable Wohnung musste gegen eine bescheidenere Unterkunft eingetauscht werden, sie durfte nicht mehr in die Schule gehen, Theater- und Kinobesuche waren verboten. Der verpflichtend zu tragende Judenstern brankmarkte. Nach Theresienstadt wurde es noch schlimmer, doch sie überlebt: Sie überlebte Auschwitz, sie überlebte die Zwangsarbeit in Außenlagern des KZ Neuengamme, und sie überlebte Bergen-Belsen.
Diese Schilderungen sind erschütternd – aber man kennt sie. Das interessante an dieser Autobiografie spiegelt sich schon im Titel des Buches wider: Ein aufgeschobenes Leben. Solange sie denken könne, schreibt Kraus, sei sie in Gedanken schon beim Morgen anstatt bei dem, was sie gerade erlebe. Im Konzert denke sie an die spätere Heimfahrt und was am nächsten Tag zu tun sei. Beim Essen denke sie an den Abwasch. „Ich bin nie ganz im Hier und Jetzt. Ich fühle, dass ich die Gegenwart nicht genieße. Da ist zu viel Kontrolle, ich kann niemals loslassen, nie völlig entspannen.“

»Meine Gefühle waren nicht völlig tot, sie waren tief in mir eingefroren, unerreichbar, aber dadurch irgendwie auch geschützt, komplett abzusterben.«
Dita Kraus

Da ist aber auch sehr viel schlechtes Gewissen. „Mein Leben ist nicht das wahre, das eigentliche Leben. Es spielt sich vor meinem eigentlichen Leben ab, als wäre es eine Art Vorwort zu meiner Geschichte. Ich muss es nicht allzu ernst nehmen, denn es zählt nicht, es ist wie eine Generalprobe. Und jemand schaut von hinten oder vielleicht auch von oben zu und fällt ein Urteil. Ein Wesen, das mein Verhalten beo­bachtet und beurteilt. Möglicherweise ist es auch gar nicht irgendwo außen, sondern in mir drin. Ist es vielleicht meine Mutter? Oder meine Großmutter? Oder ich selbst? Ich habe keine Ahnung. Aber dieses Wesen ist ständig präsent und hält mir einen unsichtbaren Spiegel vor. Ich spüre, ob es das, was ich tue, gutheißt oder nicht. Ist es zufrieden, dann fühle ich mich wohl; wenn nicht, winde ich mich innerlich. Dann versuche ich, mein quälendes Gewissen zu verdrängen, oder ich suche nach Ausreden. Doch dieses negative Gefühl ist extrem hartnäckig und lässt sich nicht so einfach vertreiben. Ich bemühe mich dann immer, Vorwände für das zu finden, was ich getan oder gesagt habe und das dem Wesen, das mich kontrolliert, missfallen hat. Aber zugleich ist mir klar, dass ich bloß versuche, mein Fehlverhalten zu rechtfertigen.“

Dita Kraus:
Ein aufgeschobenes Leben.
Kindheit im Konzentrationslager – Neuanfang in Israel.
Wallstein Verlag 2020,
487 S., € 25,70

Mutter und Tochter schafften es, den ganzen Weg von Theresienstadt bis Bergen-Belsen zusammenzubleiben – der Vater war schon in Auschwitz gestorben. Auch das Kriegsende erlebte die Mutter noch. Aber sie war gesundheitlich zu schwer angeschlagen. Kurz nach der Befreiung starb sie. Dita Kraus war in diesem Moment nicht bei ihr – sie war an diesem Abend mit Freunden bei einer Party. Angesichts des Gesundheitszustands der Mutter hatte sie noch gezögert, war aber doch gegangen. Das schlechte Gewissen deswegen quälte sie Jahrzehnte lang. Die geliebte Großmutter wiederum, die ebenfalls überlebte, ließ sie in Tschechien zurück, nachdem sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn nach Israel aufbrach. Und obwohl die Großmutter selbst nicht mehr mitwollte, schlug auch da das schlechte Gewissen zu. Wenige Monate nach Kraus’ Alija starb die Großmutter. Da sind dann aber auch noch die tragischen Geschichten ihrer beiden älteren Kinder. Der Sohn muss im Kibbuz ins Kinderhaus. Bis heute ist sich Dita Kraus nicht sicher, ob das nicht zu den schwerwiegenden psychischen Problemen führte, die ihn sein ganzes Leben lang plagten. Er ist inzwischen bereits verstorben.
Gestorben ist auch die Tochter, allerdings schon in jungen Jahren. Sie litt an juveniler Leberzirrhose. Sie starb schließlich, weil sie zu viele Entwässerungstabletten schluckte. Bis heute weiß die Mutter nicht, ob das dem Wunsch geschuldet war, nicht so aufgeschwemmt zu sein, oder als Selbstmord zu betrachten ist. Die Tochter von salzhaltigen Speisen fernzuhalten, war ihr nicht gelungen, und sie davon abzuhalten, sich immer wieder neue Entwässerungstabletten zu besorgen, ebenso wenig. Nur dem jüngsten Sohn, der allerdings 13 Jahre nach dem ersten Kind zur Welt kam, gelang ein glückliches Leben.
Viele Fragezeichen schweben auch über der Art der Beziehung mit ihrem Mann, der ebenfalls den Holocaust überlebte, ein Stück älter war als sie und den sie sehr jung heiratete. Die Beziehung begann schon sehr bald nach ihrer Rückkehr nach Prag als 16-jährige Waise, die Familien waren einander schon zuvor über den Weg gelaufen. Immer wieder beschreibt Kraus, wie unwissend und klein sie sich neben ihm vorkam. Erst mit 40 bekam sie langsam das Gefühl, sich nichts mehr von ihm vorschreiben lassen zu wollen und das auch zu artikulieren.
Wie viele andere Überlebende auch, beschreibt Dita Kraus all das, was sie in den Konzentrationslagern erlebte und sah mit einer fast schon kühl wirkenden sachlichen Distanz. Emotionen sind da kaum zu finden. Emotional wird es hingegen, wenn sie im Rückblick über die Brüche in der engen Familie schreibt, aber auch, wenn sie selbst ihre eigene emotionale Distanz beschreibt, wie in dieser Passage über die furchtbaren Zustände in Bergen-Belsen, nachdem die Nazis geflohen waren und es viele Tote, kein Wasser, kein Essen gab: „Meine Gefühle waren nicht völlig tot, sie waren tief in mir eingefroren, unerreichbar, aber dadurch irgendwie auch geschützt, komplett abzusterben. Das Wissen um meine Gefühle war für mich wie eine ferne Erinnerung, etwas, das ich früher einmal erlebt hatte und das nur noch in meinem Gedächtnis wohnte, das langsam an Farbe verlor, an Geruch und Geschmack. Mir war klar, dass das, was ich hier zu sehen bekam, unbeschreibliche Gräuel waren, doch dieses Wissen begleiteten keinerlei Gefühle, nicht eine Spur.“

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here