In Bezug auf Mobilität unterscheiden sich unsere jungen Juden nicht wesentlich von der Gesamtbevölkerung: Sie versuchen im Ausland zu studieren, arbeiten auch einige Zeit dort, in der Regel kommen sie dann wieder zurück“, erzählt Alexander Oscar, Präsident von Shalom, der Dachorganisation der Juden in Bulgarien. Der Augenarzt und Neurologe ist seit seiner frühen Jugend in der Gemeinde aktiv und war zwei Perioden lang Vorsitzender der Sofioter jüdischen Gemeinde. „Die europäische Perspektive ist für die Jungen sehr wichtig“, so der Vater eines Sohnes, „denn falls sie das Land doch verlassen, dann wegen besserer Arbeitsbedingungen und einer höheren Lebensqualität.“
Das klingt plausibel, wenn man bedenkt, dass Bulgarien mit einem Durchschnittseinkommen von 306 Euro statistisch das Schlusslicht innerhalb der EU ist. Ob sich die wirtschaftliche Lage Bulgariens bald verbessern kann, ist fraglich: Die Präsidentenwahl Ende 2016 hat der russlandfreundliche frühere Befehlshaber der Luftstreitkräfte Rumen Radew mit 58 Prozent der Stimmen klar gewonnen. Die vom Regierungschef Bojko Borissow unterstützte bürgerliche Kandidatin Zezka Zatschewa erreichte nur etwa 38 Prozent und löste damit auch den Rücktritt von Borissow aus. Radew steht für engere Beziehungen Bulgariens zu Russland und die Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland. Er setzt sich auch für eine eigenständige bulgarische Flüchtlingspolitik ein: Das Land dürfe nicht zu einem „Migrantenghetto“ werden.

„Als integraler Teil der bulgarischen Gesellschaft leben wir natürlich in keinem Vakuum, sondern sorgen uns auch wegen der steigenden Beliebtheit von rechten Parteien in Europa“, erklärt Gemeinde-Präsident Oscar. Denn es gebe leider auch ähnliche populistische Anzeichen in Bulgariens Parteienlandschaft, die die Wachsamkeit der jüdischen Gemeinden bezüglich öffentlicher Hassreden und anderer Zeichen der Intoleranz erfordern. Zwei Drittel der rund 6.000 jüdischen Gemeindemitglieder leben in Sofia, die Übrigen in den Städten Plovdiv, Varna und Burgas. „Seit 1990 konnten wir bereits viel für die Wiederbelebung des jüdischen Lebens leisten, vor allem durch die Hilfe internationaler jüdischer Organisationen, allen voran des Joint und der Ronald S. Lauder Stiftung.“ Derzeit werden in Sofia ein Kindergarten, ein Elternheim und eine jüdische Schule mit Öffentlichkeitsrecht bis zur 12. Klasse inklusive Hebräisch-Unterricht betrieben. Auch wenn es keinen ortsansässigen Rabbiner in der Hauptstadt gibt, so existieren doch Gemeindezentren an 15 Standorten landesweit. „Sehr beliebt sind unsere Seminare Bereshit im Frühling und Limmud im Herbst, an denen hunderte Menschen teilnehmen“, freut sich Oscar. Auch das Gebäude des Elternheims konnte kürzlich nur durch eine finanzielle Spende der Hamburger Georg-Stilke-Stiftung vor der Schließung bewahrt und von Grund auf renoviert und frisch möbliert werden. Jetzt nehme man auch nichtjüdische Bewohner auf, und es gebe kein Problem, dass im Haus koscher gekocht werde. In der modernisierten Großküche wird nicht nur das Essen für die Heimbewohner zubereitet, sondern auch das für den Mittagstisch im Gemeindehaus am Alexander-Stamboliski-Boulevard sowie für den jüdischen Kindergarten gegenüber der Großen Sofioter Synagoge.

Die Sofioter Synagoge wurde vom österreichischen Architekten Friedrich Grünanger entworfen und 1909 eingeweiht. Es ist die zweitgrößte sefardische Synagoge Europas. Foto: 123rtf

Der Leopoldstädter Tempel als Vorbild Denkt man heute an berühmte bulgarische Juden, so fallen einem der großartige Literat Elias Canetti und der 2015 verstorbene Carl Djerassi, Chemiker und Erfinder der Anti-Baby-Pille, ein. Sie stammten beide aus sefardischen Familien, die auch heute noch den Großteil der Gemeinde ausmachen. Aber die jüdische Besiedelung Bulgariens reicht bis ins römische Reich zurück. Schon damals fand man neben lateinischen Inschriften Symbole der Menora. Erst nach der Verfolgung durch den byzantinischen Kaiser Leo III. um 720 flohen die ersten Juden nach Bulgarien. Im vierten und fünften Jahrhundert kamen Juden aus Griechenland in das Gebiet des heutigen Bulgarien. Im 10. Jahrhundert zogen weitere Juden aus Byzanz ins Land, 1376 kam es zu einer Fluchtbewegung aus Ungarn und anschließend auch aus Bayern. Ab dem 15. Jahrhundert, infolge der Inquisition auf der iberischen Halbinsel, fand die größte Zahl an spanischen und portugiesischen Juden im Osmanischen Reich unter Sultan Bayezid II. Zuflucht.
Die erste bulgarische Verfassung von Tarnowo 1879 garantierte den Juden Freiheit und rechtliche Gleichstellung. Dennoch gab es neben einigen wohlhabenden auch sehr viele arme Juden, die unter Diskriminierung litten, beispielsweise was Bildung oder Landbesitz betraf. Um die Jahrhundertwende wurde das alte Stadtviertel im Zentrum Sofias abgerissen, das vorwiegend von Juden, Roma und Türken bewohnt wurde. Die verschiedenen ethnischen Gruppen bekamen jeweils eigene Wohngebiete zugewiesen.
Der in Lemberg geborene Mordechai Ehrenpreis war von 1900 bis 1914 Großrabbiner von Sofia. Er betrieb gemeinsam mit den beiden örtlichen wohlhabenden Gemeindevorstehern, die gute Beziehungen zum bulgarischen Königshof unterhielten, die Pläne zum Bau einer großen Synagoge. Durch Vermittlung des jüdischen Bildhauers Boris Schatz, der am Hof für Prinz Ferdinand tätig war, wurde der österreichische Architekt Friedrich Grünanger (1856–1929), der sich von 1878 bis 1905 in Bulgarien aufhielt, mit der Planung beauftragt. Grünanger war damals königlicher Hofarchitekt und hatte u. a. bereits die königlichen Residenzen in Sofia entworfen. Eine Quelle besagt, dass Grünanger sich den Leopoldstädter Tempel in Wien als Vorbild für seinen Bau genommen habe, anderen Angaben zufolge war es der Türkische Tempel, eine sefardische Synagoge, ebenfalls in Wien-Leo­poldstadt. Jedenfalls wurde die Sofioter Synagoge 1909 eingeweiht und gilt noch heute als die größte auf der Balkanhalbinsel und die drittgrößte in Europa, nach dem Dohany-Tempel in Budapest und der Portugiesischen Synagoge in Amsterdam. Somit ist sie die zweitgrößte sefardische Synagoge Europas.

 

Schabbatfeier in Sofia

Schäden erlitt die Synagoge erst bei den Bombardierungen von Sofia 1944, wobei die Galerie, einige Säulen und die Kuppel teilweise zerstört wurden. Auch ein Großteil der wertvollen Bestände der jüdischen Bibliothek verbrannte. Erst ab 1989 begann die Renovierung der Synagoge, die wegen ihres baulichen Zustandes praktisch nicht mehr als Bethaus benutzbar war. Die Baukosten wurden durch Spenden finanziert, unter anderem auch mit Hilfe bulgarischer Emigranten in Haifa. Seit 1992 beherbergt die Synagoge das Jüdische Historische Museum der jüdischen Gemeinden in Bulgarien, Shalom.

 

Offizielle Zeremonie: Staatspräsident Rossen Plewneliew (Mitte) bei der Entzündung der Chanukkia am 26. Dezember 2016.

Einmalig in Europa: die Rettung der bulgarischen Juden Gleichlautende seltsame Schreiben erreichten einige Monate vor dem Sturz des kommunistischen bulgarischen Staatschefs Todor Schiwkow 1989 einzelne jüdische Persönlichkeiten und Journalisten in Wien. Darin wurde die Einladung ausgesprochen, nach Sofia zu kommen und sich „die Geschichte der außergewöhnlichen Rettung der fast 50.000 bulgarischen Juden“ berichten zu lassen. Die politische Führung in Sofia fühlte bereits den herannahenden politischen Umschwung und wollte sich für die guten Beziehungen zum Westen salonfähig machen. So fanden sich in einem dunklen, riesig großen Konferenzzimmer, akribisch bewacht von streng blickenden Sicherheitsleuten, der Bankier Simon Moskovics, der Textilgroßhändler Leopold Böhm, der Fotograf Ed Serotta, Associated Press-Korrespondentin Alison Smale und ich zusammen, um den Offiziellen bei ihrer bemühten „Annäherung an das Weltjudentum“ zu lauschen. Ging es doch darum, das großteils isolierte Land auf neue kapitalistische Zeiten vorzubereiten.

Eine Allianz aus christlichen Kirchenführern, mutigen Politikern und einer couragierten Zivilbevölkerung verhinderte im Jahr 1943 die Deportation bulgarischer Juden.

Trotz aller kuriosen und ungeschickten Vorkommnisse während dieser Propagandareise, bleibt die Tatsache unbestritten, dass die Allianz aus christlichen Kirchenführern, mutigen Politikern und einer couragierten Zivilbevölkerung im Jahr 1943 die Deportation und damit verbundene Vernichtung der bulgarischen Juden verhinderte. Zur Vorgeschichte: Bulgarien wurde seit 1935 absolutistisch von König Boris III. beherrscht; das Parlament hatte ab 1938 nur beschränkte Vollmachten. Bis März 1941 verhielt sich Bulgarien neutral und trat erst ab diesem Zeitpunkt dem Dreimächtepakt bei. So konnte es seine Gebietsansprüche auf  Thrakien (von Griechenland) und Mazedonien (von Jugoslawien) realisieren. Bereits im Juli 1940 waren mit dem „Gesetz zum Schutz der Nation“ antisemitische Bestimmungen eingeführt worden: Die Juden wurden registriert, aus öffentlichen Ämtern entfernt. Teile ihres Eigentums wurden eingezogen und eine Sondersteuer erhoben.
Ab Juni 1942 drängten die deutschen Nazi-Verbündeten immer wieder auf die Deportation der jüdischen Bürger. In den von Bulgarien annektierten Gebieten wurde der Befehl ausgeführt: Am 4. März 1943 wurden alle Juden verhaftet, die in diesen Regionen lebten. Nach dem kurzen Aufenthalt in zwei Internierungslagern wurden die thrakischen Juden, eskortiert von bulgarischen Polizisten, in Viehwaggons deportiert, in der Hafenstadt Lom an der Donau gesammelt und den Deutschen übergeben. Die Juden wurden auf vier kleine Schiffe geladen. Zehn Tage später erreichten sie Wien und von hier wurden sie ins Todeslager Treblinka geschickt. Die mazedonischen Juden wurden in Skopje konzentriert und auf dem Landweg nach Treblinka deportiert. Insgesamt wurden 11.370 Menschen aus Thrakien und Mazedonien in den Tod geschickt.

„Wo ihr hingeht, da will auch ich hingehen“, soll der lokale Metropolit Kiril am 9. März 1943 zu Tausenden auf einem Schulhof in Plovdiv zum Abtransport in die Todeslager versammelten Juden gesagt haben.

Diese Aktion gilt als schwarzer Fleck auf der weißen Weste des bulgarischen Kernlandes: Denn zur gleichen Zeit bereitete sich die bulgarische Regierung auf die Durchführung der ersten Deportation von Juden aus Plovdiv und Kyustendil vor. Obwohl die Aktion hätte geheim bleiben sollen, wurde der stellvertretende Parlamentspräsident Dimitar Peschew am 8. März 1943 von einem Freund aus seiner Heimatstadt, dem früheren Vorsitzenden der Jewish Agency, Jakov Baruch, über die Bereitstellung von Waggons im Bahnhof von Kjustendil informiert. Mit ihnen sollten die Juden der Stadt zur Vernichtung abtransportiert werden. Angeführt von Peschew stellte schließlich eine Gruppe Parlamentarier den Innenminister Petar Grabovski zur Rede. Grabovski war Mitglied der antisemitischen Organisation Ratni (Der Kämpfer) gewesen. Da die Deportation geheim bleiben sollte, beteuerte Grabovski seine Unkenntnis. Mit viel Druck gelang es Peschew schließlich am 14. März, dem Regierungschef Bogdan Filow ein Manifest zu überreichen, unterschrieben von vierzig Parlamentariern, in dem gefordert wurde, die judenfeindlichen Maßnahmen sofort zu beenden.
„Wo ihr hingeht, da will auch ich hingehen“, soll der lokale Metropolit Kiril am 9. März 1943 zu Tausenden auf einem Schulhof in Plovdiv zum Abtransport in die Todeslager versammelten Juden gesagt haben. „Schande und Schmach, Herr Ministerpräsident, was tun Sie mit unseren Mitbürgern, den Juden? Wenn Sie Ihre Haltung ihnen gegenüber nicht ändern, verhänge ich den Kirchenbann über Sie und Ihre Regierung“, drohte Sofias Metropolit Stefan. Der Druck auf den König und seine Regierung war so groß, dass am 24. Mai 1943 der Deportationsplan von 48.000 bulgarischen Juden aufgehoben wurde.
Wem dafür das größte Verdienst gebührt, darüber gibt es unterschiedliche Versionen. Unbestritten ist die wichtige Rolle von Geistlichen der bulgarisch-orthodoxen Kirche, mutigen Politikern, Arbeitern und Studenten, die in Sofia auf der Straße protestierten und dafür auch oft mit Haftstrafen belegt wurden.
Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Bulgarien im September 1944 kam die bulgarische kommunistische Partei durch einen Staatsstreich, unterstützt durch die Rote Armee, an die Macht. Sie organisierte die Hinrichtungsprozesse der so genannten Volksgerichte, in denen sowohl Regierungschef Bogdan Filow sowie 22 Minister seines Kabinetts, darunter auch Petar Gabrovski und weitere 66 Abgeordnete des bulgarischen Parlaments, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Diese Tage gingen in die bulgarische Geschichte als Tage des roten Terrors ein. Das alarmierte auch die jüdische Gemeinschaft: Gleich nach der Staatsgründung Israel verließen 38.000 Juden das Land Richtung Israel, bis Ende 1949 stieg ihre Zahl auf 42.716.

„Für diese einzigartige Rettung bezeugen wir bis heute unsere Dankbarkeit“, erzählt Präsident Oscar, „wir veranstalten jährlich eine große Wohltätigkeitsgala und sammeln Geld für kostenlose medizinische Untersuchungen für ärmere Kinder in ländlichen Gebieten.“

Alexander Oscar, Präsident der jüdischen Gemeinde, und Sofia Cohen, Vorsitzende des Central Israelite Spiritual Council, bei der jährlichen Eröffnung des Limmud-Seminars.

„Für diese einzigartige Rettung bezeugen wir bis heute unsere Dankbarkeit“, erzählt Präsident Oscar, „wir veranstalten jährlich eine große Wohltätigkeitsgala und sammeln Geld für das Projekt Maasim Tovim. Dabei geht es um kostenlose medizinische Untersuchungen für ärmere Kinder in ländlichen Gebieten.“ Zehntausend bulgarische Kinder haben bereits von dieser Aktion profitiert. Die kleine Gemeinde arbeitet mit den Behörden gut zusammen, insbesondere wenn es um den Schutz der jüdischen Institutionen geht. „Wir bauen jetzt ein Zentrum für Krisenmanagement auf, wo wir Freiwillige trainieren, damit sie den Mitgliedern in Ausnahmesituationen helfen können“, erzählt der Präsident und verweist auf den verheerenden Anschlag von Hisbollah-Terroristen auf israelische Touristen am Flughafen von Burgas am 18. Juli 2012.

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