Freie, liberale, tolerante, freche Welt

Cabaret ist ein bittersüße Ode an das Berlin der frühen 1930er-Jahre – und nun erstmals an der Volksoper, inszeniert von Gil Mehmert und mit Ruth Brauer-Kvam als Conferencier.

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Blickkontakt. „Diesen Conférencier kann man nicht spielen, der muss man sein!“ Gil Mehmert (rechts) über seine Besetzung. © Reinhard Engel

Wina: Das Musical Cabaret, das Sie jetzt an der Volksoper inszeniert haben, zeigt das ausgelassene Treiben im Berlin der 1930er-Jahre: Es ist ein Tanz auf dem Vulkan. Die Menschen verdrängen die aufkeimende, bereits spürbare Gefahr des Nationalsozialismus. Sehen Sie inhaltliche Parallelen zu heute?
Gil Mehmert: Es gibt ganz schreckliche Parallelen. Cabaret taucht jetzt vermehrt auf den Spielplänen auf – und das beweist, wie aktuell es ist. In den 1980er- und 90er-Jahren wurde es selten gespielt, denn es war ein bisschen exotisch, glich einer Zeitreise. Heute sind die Verhältnisse leider tatsächlich so, dass man sich das wieder vorstellen kann. Denn die große Gefahr ist vom rechten Rand immer mehr in die Mitte gerückt. In Deutschland ist das so, für Österreich kann ich die politische Situation nicht genau einschätzen. Aber in Deutschland sieht man an den Wahlergebnissen, wie gefährlich sich das entwickelt. Gott sei Dank gibt es anhand der geschichtlichen Erfahrung etliche Bewegungen, die sich bemühen, rechtzeitig entgegen zu steuern.

Enthält Ihr Regiekonzept aktuelle Anspielungen?
❙ Ich glaube, dass wir unsere Figuren so lebendig vom Milieu her erzählen lassen, dass unsere Inszenierung nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument ist, sondern ein buntes Treiben zwischen zwei Welten zeigt: nämlich zwischen einer freien, liberalen, toleranten, frechen Welt in einem Kabarett als die Idealvorstellung einer multikulturellen Vielfalt. Auf der anderen Seite präsentieren wir das Pensionszimmer in einem Mietshaus, wo man schnell merkt, wie die bürgerliche Fassade bröckelt und hinter den Masken bedenkliche Haltungen hervorkommen.

»Ich sehe die Rolle als ein wunderbares Geschenk
und hätte nie gedacht, dass ich das spielen darf.« 
Ruth Brauer-Kvam

Schärfen Sie die Gegensätze zwischen der eskapistischen Kunstwelt und der brutalen Realität?
❙ Ja, denn Cabaret wurde immer öfter zum Kammerspiel. Das passt auch gut zu diesem Stück, denn es wurde meist filmisch erzählt, auch im Nachklang zum großen Filmerfolg. Wir übertragen das auf die große Bühne der Volksoper, und daher können wir dieser bürgerlichen Pensionswelt viel mehr Raum und einen größeren Schwerpunkt geben.

Christopher Isherwood, der Autor des literarischen Originals Berlin Stories, das dem Textdichter Joe Masteroff als Vorlage diente, distanzierte sich in den 1950er-Jahren von seinem eigenen Text. Angesichts der späteren politischen Entwicklungen in Berlin erschienen ihm seine Menschenbilder in ihrer Not zu „leichtfüßig“. Wie sehen Sie das?
❙ Isherwoods fünf Kurzgeschichten sind eine sehr gute Milieubeschreibung Berlins Anfang der 1930er-Jahre, da kündigten sich ja bereits schlimme Tendenzen an. Aus der geschichtlichen Erfahrung wissen wir jetzt, was kommen kann, das ist sicherlich ein Vorteil. Wir beleuchten das psychologisch und schauen ganz genau auf die einzelnen Paare, auf ihren Lebenskampf, auf die vielen menschlichen Entscheidungen, die sie treffen müssen – auch für ihre Partner. Dahinter verbirgt sich stets auch eine politische Haltung – und das zeigen wir.

Ruth Brauer-Kvam (Mitte) mit Ensemble. Figuren lebendig vom Milieu her erzählen lassen. © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Wie kam es zu dem Regieangebot an Sie?
❙ Die Pointe ist, dass man für Cabaret die Rolle der Sally Bowles mit meiner Frau Bettina Mönch besetzen wollte, die an der Volksoper schon etabliert ist. Danach suchte man erst einen Regisseur. Da wir das Stück schon gemeinsam gemacht haben und ich im deutschen Sprachraum ein gewisses Renommee habe, holte man mich wieder nach Wien.

Wann und wo haben Sie bisher in Wien gearbeitet?
❙ Ich habe bei Michael Schottenberg am Volkstheater zwei sehr poetische, musikalische Stücke gemacht: 2007 das Das Ballhaus, bei dem es um eine Zeitreise von 1936 bis in die 1980er-Jahre in einem Pariser Tanzcafé geht. Danach schrieb ich eine eigene Theaterfassung von Woody Allens Film Purple Rose of Cairo, deren Uraufführung ich 2009 inszenierte.

»Ich arbeite vor allem gerne mit Künstlern,
die mich inspirieren, die mich überraschen,
die mir zeigen, wie klein meine Phantasie war,
weil wir noch etwas Größeres miteinander
machen können.«

Gil Mehmert

Zu Ihren jüngsten Regiearbeiten gehören Le Nozze di Figaro an der Oper Leipzig sowie die Musicals Evita in Bonn und Westside Story in Dortmund. Wie vertragen sich Oper und Musical miteinander?
❙ Ich arbeite vor allem gerne mit Künstlern, die mich inspirieren, die mich überraschen, die mir zeigen, wie klein meine Phantasie war, weil wir noch etwas Größeres miteinander machen können. Ob das die Oper, der Film oder das Schauspiel ist, wird unerheblich, wenn man eine Geschichte zu erzählen hat. Beim Musical habe ich einen größeren Spielraum als bei der Oper, bei der ich an der Struktur des Stückes nicht viel ändern kann. Im Musical kann ich choreografisch, rhythmisch und auch am Timing arbeiten, bei der Oper ist das Korsett enger.
Daher interessieren mich zeitgenössische Opern mehr, so wie Radek, ein Stück, das in Kooperation mit der Neuen Oper Wien und den Bregenzer Festspielen entstanden ist. Im Zentrum dieser Oper steht der galizische Jude Karl Radek (1885–1939), einer der brillantesten Demagogen der kommunistischen Bewegung der 1920er-Jahre. Darin zeichnet der Komponist Richard Dünser eine Figur nach, an der die Probleme des 20. Jahrhunderts transparent werden.

Das heutige Publikum versteht mehr Sprachen als 1966 zur Entstehungszeit von Cabaret. Warum wird es trotzdem in deutscher Sprache aufgeführt?
❙ Das ist ein delikates Thema. Der große Unterschied besteht darin, dass man im Musical den Text gut verstehen muss, weil man eine Geschichte erzählt. Beim Musiktheater, wo man auch ohne Verstärkung und unter anderen musikalischen Bedingungen arbeitet, dominiert das Gefühl; der Subtext ist so stark und lautmalerisch, dass es gar nicht darum geht, die Worte genau zu verstehen. Im Musical muss man es schaffen, dass es nicht übersetzt klingt, sondern als eine Einheit von Gesang und Worten wirkt. Am Schönsten ist es, wenn man nach einer Aufführung nicht darüber nachdenkt, in welcher Sprache etwas gesungen wurde, sondern es als harmonisches Gesamterlebnis wahrnimmt.

Hatten Sie freie Hand bei der Besetzung?
❙ Ja, natürlich. Die Volksoper hat großartige Kräfte – unter anderem spielt Direktor Robert Meyer den Herrn Schultz –, und wir haben auch Auditions gemacht. Zur großen Entscheidung wurde die Rolle des Conférenciers, denn diese ist mit Joel Grey im Film schon fast ikonenhaft abgebildet. Die meisten Menschen haben auch dieses Bild im Kopf. Ich wollte mit einer charismatischen Figur ausweichen, die weder typisch männlich oder weiblich, weder alt noch jung ist. Da kam nur Ruth Brauer-Kvam in Frage, denn sie bringt nicht nur ihren eigenen kulturellen Hintergrund ein, sondern besitzt die gesamte Bandbreite eines Künstlerwesens: Ruth muss man öfter einbremsen, denn wenn man die Schachtel aufmacht, springt ein Kobold heraus. Sie ist der ideale Conférencier, der uns in eine völlig schräge Welt einführt. Diesen Conférencier kann man nicht spielen, der muss man sein!

Liebe Ruth Brauer-Kvam, Sie waren bereits 2011 als beste Schauspielerin für Cabaret für den Nestroy-Preis nominiert – allerdings für die Darstellung der Sally Bowles. Nun wechseln Sie in die Rolle des Conférenciers. Würden Sie lieber die Sally spielen?
Ruth Brauer-Kvam: Oh Gott, nein! Ich habe die Sally schon in drei verschiedenen Produktionen gespielt, das ist wirklich mehr als genug, und ich bin jetzt zu alt dafür. Die Sally muss jung sein. Bettina Mönch ist großartig, ich höre ihr so gerne zu. Aber die Figur des Conférenciers ist auch irgendwie eine alt gewordene Sally. Ich sehe die Rolle als ein wunderbares Geschenk und hätte nie gedacht, dass ich das spielen darf.

Wie legen Sie die Rolle des Conférenciers an?
❙ Er repräsentiert diese Zeit des Aufbruchs, den Geist von Angel Aquarius, wo die Grenzen der Geschlechter aufgehoben werden, ohne Urteile übereinander zu fällen. Einfach das Selbstverständnis vorherrscht, dass man so sein kann, wie man ist, mit der hundertprozentigen Kreativität, die einem inne wohnt. Natürlich ohne dabei anderen zu schaden. Empathie und Verständnis für das Anderssein, das ist es auch, was uns heute fehlt. Der Conférencier ist ein ES, das die Kunst und die Freiheit repräsentiert.

Was verbindet die beiden Figuren, die Sally und den Conférencier?
❙ Die beiden verbindet die Erkenntnis, dass es für sie nur die Bühne oder den Tod gibt. Sally entscheidet sich letztendlich gegen ein bürgerliches Leben in den USA und für die Bühne. Bei ihr weiß man genauso wenig wie beim Conférencier, ob sie am Leben bleiben wird. Meist haben diese Freigeister die NS-Zeit nicht überlebt. Die Kunst und die Freiheit wurden unterdrückt, weil man Angst davor hatte.

Beeinflusst Sie der Film bei Ihrer Rollengestaltung?
❙ In der Pubertät war das für mich der wichtigste Film überhaupt. Mindestens einmal in der Woche habe ich Cabaret angeschaut. Es war inspirierend für mich zu sehen, wie man zu sich selbst steht, egal, wie die anderen über einen denken.

Von 2007 bis 2018 waren Sie Ensemblemitglied des Theaters in der Josefstadt. Jetzt arbeiten Sie frei. Warum?
❙ Ich wollte grundsätzlich fest an einem Haus arbeiten, weil mich die Vielfalt der Arbeitsweisen interessiert hat. An der Josefstadt, die meine Heimat war und noch immer ist, habe ich wunderbare Chancen und eine große Bandbreite an Rollen bekommen: Ich durfte in Stücken von Glattauer über Mitterer bis Kehlmann spielen. Dann fühlte ich, dass ich mich wieder für anderes fordern muss. So wurde das Inszenieren ein Teil meines Interesses.

Was haben Sie bereits inszeniert?
❙ Zuletzt Wiener Blut als Operettenparty im Bronski & Grünberg. Die Operette interessiert mich am meisten. Ich finde, sie muss wieder zu ihren Ursprüngen zurück: also Schauspieler engagieren, die singen, weil das Burleske leider verloren gegangen ist. Es reizt mich sehr, in kleinen Räumen zu arbeiten, um das musikalisch dort anzusiedeln, wo es noch nicht war.

Sie machen Musik, Tanz, Schauspiel, Film und Fernsehen – was davon am liebsten?
❙ Alles, alles: Ich will mich auch nicht in eine Schublade stecken lassen. Schließlich kommt ja alles aus der gleichen Ecke: Die Kreativität entspringt einmal dem Körper, und ein anderes Mal drückt sie sich im Gesang aus. Es ist die absolute Erfüllung eines Traumes, dass ich an allem arbeiten darf, zum Beispiel am Rabenhof den Soloabend Arik über meinen Vater gestalten konnte. Das ist wunderschön, wenn ich das alles leben darf.


Gil Mehmert studierte zuerst Musik in Köln, dann Regie bei August Everding in München. Er inszenierte sowohl Musiktheater wie auch Schauspiel u. a. in Berlin, Bochum, Hamburg, Leipzig, München, Zürich und Wien. Er widmete sich insbesondere Bühnenbearbeitungen von Filmstoffen, aber auch Open-Air-Produktionen. Zuletzt erarbeitete er La Nozze di Figaro an der Oper Leipzig, die Musicals Evita in Bonn und Westside Story in Dortmund. Mehmert lehrt den Studiengang Musical an der Folkwang Universität der Künste in Essen.

Ruth Brauer-Kvam, 1972 in Wien geboren, erhielt ihr Diplom am Tanz-Gesangsstudio Theater an der Wien. Die vielseitige Schauspielerin und Sängerin ist in Theater, Musical, Film und Fernsehen zu sehen. Zusätzlich führt sie auch Regie, ist Malerin und Illustratorin. Sie spielte drei Jahre bei Barrie Kosky am Wiener Schauspielhaus und gehörte von 2007 bis 2018 dem Ensemble des Theaters in der Josefstadt an. Mit den Tonkünstlern führte sie 2018 Kaddish von Leonard Bernstein im Musikverein auf. 2019 debütierte sie am Burgtheater in Herbert Fritschs Zelt.

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