Genie und Angst

Der englische Musikjournalist Norman Lebrecht hat mit Genius & Anxiety eine interessante Studie über außergewöhnliche Leistungen jüdischer Menschen zwischen 1847 und 1947 vorgelegt.

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Norman Lebrecht: Genius & Anxiety. How Jews Changed the World, 18471947 Oneworld Publications, London, 464 S. € 27,61

Sie waren beide Talente der Superlative, der eine als Musiker und Komponist, der andere als Dichter und Schriftsteller. Sie waren beide konvertierte Juden. Und doch konnten sie nicht unterschiedlicher sein, trotz aller Spitzenleistungen und gemeinsamer Herkunft. Felix Mendelssohn-Bartholdy, auch wenn er der Enkel des großen jüdischen Gelehrten Moses Mendelssohn war, passte sich an seine neue Welt fast nahtlos an, sei es in den bürgerlich-christlichen Salons, sei es mit Kantaten und anderen geistlichen Werken.
Heinrich „Harry“ Heine wiederum war grob, rebellisch und witzig. Er sah wohl die Taufe realistisch als „Eintrittskarte zur europäischen Kultur“, ließ aber keinen Zweifel an seiner Herkunft oder Zugehörigkeit. Zwar haderte er und klagte schon einmal, das Judentum sei keine Religion, sondern ein Unglück. Als er jedoch gefragt wurde, ob er zum Judentum zurückkehren wolle, antwortete er, dass das nicht notwendig sei, denn er habe es nie verlassen. Tatsächlich griff Heine auch immer wieder jüdische Themen in seiner Arbeit auf, etwa in der Erzählung Der Rabbi von Bacharach oder im Gedicht Jehuda ben Halevy.
Der englische Musikjournalist Norman Lebrecht beginnt nicht zufällig seine Untersuchung zu Genie und Angst Genius & Anxiety. How Jews Changed the World, 18471947 mit diesen beiden Beispielen. Er geht ihm darum darzustellen, wie und warum im Jahrhundert zwischen 1847, also vor der Revolution, bis 1947, also nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Schoah, so viele jüdische Männer und Frauen außergewöhnliche Leistungen in den unterschiedlichsten Feldern von Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft zustande gebracht haben. Gleich am Anfang verwehrt er sich dagegen, an ein besonderes Gen der Begabung zu glauben. Er will vielmehr analysieren, was die spezifischen Voraussetzungen für diese kreativen Werke oder wissenschaftlichen Neuerungen waren. „Welchen Einfluss hat das jüdische Mindset auf diese Leistungen gehabt?“, fragt er.
Und gleich der Dichotomie von Genie und Angst entwickelt er seine Argumentation: Auf der positiven Seite wussten und dachten die meisten von ihnen trotz Religionswechsel oder Atheismus viel mehr Jüdisches, als sie selbst glaubten. Auf der anderen negativen Seite blieb „eine existenzielle Angst“ ihr ständiger Begleiter. Sie trauten ab der Affäre Dreyfus in Paris nicht mehr der Sicherheit der Assimilation, und Lebrecht formuliert dies am Beispiel Franz Kafkas pointiert: „Sie sind bedroht von Drohungen.“
Der Autor zeichnet ein überregionales, großes Bild, nimmt seine Leser mit auf eine Grand Tour (mit gelegentlichen historischen Ungenauigkeiten). Die jüdischen Leistungen spannen sich von medizinischen, etwa der Blutgruppenklassifizierung durch Karl Landsteiner, über die Grundlagenforschung zur DNA von Rosalind Franklin zu Physik und Chemie, dargestellt an Albert Einstein oder Paul Ehrlich. Er führt durch das nervöse, hoch kreative Wien des Fin de Siècle und in das fiebrige Berlin der 1920er-Jahre. Er beschreibt den Schneider Levi Strauss in Kalifornien und die neuen Investmentbanken der Wall Street „mit deutschen Namen und jüdischen Eigentümern“ wie Lehman Brothers, Goldman Sachs, Warburg oder Kuhn Loeb. Auch im 20. Jahrhundert stellt er jüdische Ausnahmemusiker vor, zunächst in Europa, etwa Arnold Schoenberg und Gustav Mahler, dann in Amerika George Gershwin und Leonard Bernstein.

Die jüdischen Leistungen spannen sich von medizinischen, etwa der Blutgruppenklassifizierung durch Karl Landsteiner, über die Grundlagenforschung zur DNA von Rosalind Franklin hin zu Physik und Chemie, dargestellt an Albert Einstein oder Paul Ehrlich.

Die andere Seite, die der Angst, findet sich nicht bloß als Gespenst des Nicht-akzeptiert-Werdens oder Ausgeschlossen-Bleibens in der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Lebrecht zeigt die brutalen Gründe für Flucht und Emigration, beginnend mit Pogromen in Russland über NS-Verfolgung und Vernichtung sowie Antisemitismus in der Sowjetunion. Die Dichte von jüdischem Talent in England, Amerika und Israel war nicht zuletzt eine direkte Folge dieser mörderischen Taten.

Nun zu den Thesen. Lebrecht zitiert Mahler: „Ein Jude ist wie ein Schwimmer mit einem kürzeren Arm. Er muß zweimal so kräftig schwimmen, um ans Ufer zu kommen.“ Die Aussage, dass gesellschaftliche Gruppen, die neu aufsteigen wollen, mehr Anstrengung, Talent und Fantasie brauchen, ist nicht neu. Dasselbe gilt heute für Asiaten in den USA oder für Migranten aus anderen Kulturen in Europa, für Frauen in vielen Gesellschaften. Interessant wird Lebrecht vor allem dort, wo er auf die Schnittstellen zwischen jüdischer Gelehrtheit und Tradition, hebräischer und jiddischer Sprache sowie einem komplexen, jahrtausendealten Denkgebäude verweist, und wie sich all dies oftmals unwissentlich in den modernen Errungenschaften der Akteure des 19. und 20. Jahrhunderts widerspiegelt.
Einige Beispiele: Lebrecht sieht in den wiederkehrenden Irregularitäten erzählter Zeit bei Marcel Proust Spuren des Talmudischen, wo es einmal um Augenblicke und einmal um Jahrhunderte geht, nicht um die im Alltag erfahrene, reale Zeit. Ähnliches gelte bei der Relativitätstheorie Einsteins. „Wie jüdisch war Einstein?“, fragt der Autor rhetorisch. Er wuchs in einem atheistischen Haus auf, durchlebte selbst eine kurze intensive religiöse Phase und blieb dann sowohl dem Judentum wie auch Israel verbunden. Laut Lebrecht glaubte Einstein „an den Gott Spinozas“, der sich um die große Harmonie des Existierenden kümmere, nicht aber um den einzelnen Menschen.
Auch in den Schriften Sigmund Freuds entdeckt Lebrecht mehr als nur verblasste Spuren jüdischer Denk- und Diskurstradition, unter anderem bei der freien Assoziation, beim Unbewussten, bei der Traumdeutung oder der Übertragung. Ausgerechnet von einem der meistzitierten jüdischen Intellektuellen, Theodor Herzl, zeigt er sich distanziert. „Er ist der am wenigsten jüdische Jude“, so Lebrecht. „Sein Erfolg basiert auf dem Zeitgeist und auf Chuzpe.“
Wieso hat Lebrecht dieses Buch geschrieben? Als eine der Hauptmotivationen nennt er den wiedererwachenden Antisemitismus, mit dem er selbst nicht gerechnet hätte. Weiters konnte er in England noch mit einer großen Zahl von intellektuellen Emigranten vom europäischen Festland sprechen, die ihm aus der Zweig’schen „Welt von gestern“ unmittelbar berichteten. Und drittens hatte er selbst nach dem Abschluss eines jüdischen Gymnasiums in London und vor dem Studium an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan eine Yeshiva in Jerusalem besucht und seither nicht aufgehört, jüdische Texte in Hebräisch, Aramäisch und Jiddisch zu studieren. Er könne eben die beiden Welten miteinander verknüpfen.
Und er kennt aus seinem beruflichen Leben eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Welten. Als Journalist arbeitete der 1948 in London Geborene unter anderem für das israelische Fernsehen, für die BBC, auch für die britischen Tageszeitungen Daily Telegraph, Sunday Times und Evening Standard. Heute verantwortet er die international viel beachtete Website für klassische Musik Slipped Disc, daneben schreibt er als Kulturkommentator für Medien wie Bloomberg und das Wall Street Journal. Er hat mehrere Sachbücher zur klassischen Musik und zum Niedergang der Musikbranche verfasst sowie einen Roman.

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