Good bye Facebook?

Jaron Lanier fordert seine Leserinnen und Leser auf, ihre Social-Media-Accounts zu löschen. Sein Buch Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst ist ein moralisches Manifest mit soliden Argumenten.

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Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hofmann und Campe 2018, 208 S., 14 €

Das elegante Florett führt Jaron Lanier nicht gerade in seiner Schlacht gegen Facebook und Google: Sucht, Betrug, Veränderung der Persönlichkeit, ein Ende seriöser Politik. Seine Vorwürfe kommen knüppeldick daher. Nicht alles ist neu, vieles aber gut durchgedacht. Der Autor Lanier sieht zwar aus wie ein versponnener Jazz-Musiker – wer einmal seine langen Rasterlocken und seinen mächtigen Bauch gesehen hat, wird ihn nicht mehr vergessen –, doch er hat einen soliden Background im Silicon Valley. Und er wird auch von den Entscheidungsträgern der globalen Tech-Riesen ernst genommen.
Lanier, Jahrgang 1960, gilt als Internet-Pionier der großen kalifornischen Gründerzeit. Er arbeitete an Grundlagen des Internets und war an den ersten Entwicklungen von Virtual Reality maßgeblich beteiligt. Zweimal verkaufte er eigene Start-up-Firmen an Google, er berät auch heute noch als Chefstratege Microsoft.
Daneben ist Lanier Musiker und Komponist. Besucher seines Hauses in Kalifornien berichten von mehr als 100 seltenen, meist historischen Instrumenten, denen er auch Töne entlocken kann. Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn im Jahr 2014 spielte er anschließend ein Ständchen auf einer laotischen Flöte aus Bambus.
Diese Begabung hat er von seinen Eltern. Vater und Mutter waren nach dem Holocaust in die USA emigriert, der Vater aus der Ukraine, die Mutter, die aus Wien stammt, hatte noch als Jugendliche die Zahlentätowierung eines Konzentrationslagers eingebrannt bekommen. Sie änderten ihren Namen von Zepel auf Lanier, weil sie auch in den USA antisemitische Vorurteile fürchteten. Beide waren künstlerische Menschen und lebten im hippen Greenwich Village. Warum sie dann kurzfristig nach Westen an die mexikanische Grenze zogen, wo Lanier aufwuchs, weiß er bis heute nicht. Sein Vater schrieb eher erfolglos Kurzgeschichten, die Mutter, eine Pianistin, ernährte die Familie mit telefonischem Aktienhandel.
Sie kam allerdings bei einem Autounfall ums Leben, als Jaron neun Jahre alt war. Das stürzte ihn in eine tiefe Krise. Er brach später die Schule ab, durfte aber als hochbegabtes Kind schon als Teenager an die Uni von New Mexico, erhielt ein Stipendium und lernte programmieren. Bald standen ihm in den neuen Tech-Unternehmen die Türen offen, seinen ersten Job fand er bei Atari, dann sprang seine Karriere an. Inzwischen hat er unter anderem in Yale, Columbia und Berkeley unterrichtet und eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die gegenüber den sozialen Medien immer kritischer wurden.

„Kann es sein, dass es wichtiger ist, einige wenige Menschen auf einer tiefen, ernsthaften Ebene zu erreichen als alle Menschen mit Nichts zu erreichen?“
Jaron Lanier

Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst ist die bisher schärfste Attacke auf Google und Facebook. An diesen beiden Konzernen arbeitet er sich ab, andere Unternehmen der Spitzengruppe wie Apple, Amazon oder Netflix nutzen zwar ähnliche Methoden, bieten aber daneben auch handfeste Produkte oder Dienstleistungen an und leben nicht vorrangig vom Ausspähen ihrer Kunden und dem Vermarkten derer Daten.
Das Buch ist in den USA kurz nach der Wahl von Donald Trump erschienen, auf die große Manipulationsstory von Cambridge Analytica auf Facebook konnte Lanier nur mehr im Vorwort kurz eingehen. In einem ausführlichen Kapitel über die Möglichkeiten von Social Media für politische Einflussnahme, das er zuvor geschrieben hatte, lässt er allerdings schon ganz klar erkennen, welche Gefahren offensichtlich sind.
Im Kern der Argumentation Laniers arbeitet er mehrere Stränge heraus. Und ob es um Politik, die Teilnahme am ökonomischen Leben oder um persönliche Freiheiten geht, immer wieder gelangt er zu jenen undurchschaubaren und auch unsauberen Kombinationen aus Geschäftsmodell und mathematischen Formeln, die er nicht weiter hinnehmen will und vor denen er uns alle warnt.
„Heute bekommt jede Person, die in einem sozialen Netzwerk unterwegs ist, individualisierte und ständig optimierte Reize serviert, pausenlos, solange sie ihr Smartphone benutzt. Was früher Werbung genannt wurde, muss heute als unaufhörliche Verhaltensmodifikation in gigantischem Umfang verstanden werden.“ Lanier zitiert dabei maßgebliche Akteure aus dem Silicon Valley, die wie er inzwischen das fürchten, was sie geschaffen haben. Sean Parker, der erste Präsident von Facebook, spricht von „Dopamin-Kicks“ nach dem Like oder Posten, davon, dass man „damit eine Schwachstelle der menschlichen Psyche ausnutzt“. „Das verändert buchstäblich deine Beziehungen zur Gesellschaft und untereinander“, so Parker. Und Chamath Palihapitiya, der frühere Vice President für Nutzerwachstum bei Facebook: „Die von uns entwickelten, schnell reagierenden, dopamingesteuerten Feedbackschleifen zerstören, wie die Gesellschaft funktioniert. […] Kein gesellschaftlicher Diskurs, keine Zusammenarbeit; Desinformation, Unwahrheit. […] Meine persönliche Lösung ist, dass ich diese Tools einfach nicht mehr benutze. Schon seit Jahren nicht mehr.“

Zuteilung von Nachrichten. Lanier kritisiert nicht das Nutzen des Internets, einer Technologie, sondern nur ein bestimmtes Geschäftsmodell. Dort wiederum legt er den Finger ganz präzise auf mehrere wunden Punkte:

☛ Erstens der Suchtaspekt: „Die Leute erkennen nicht, wie sie manipuliert werden. Der Hauptzweck dieser Manipulationen ist, immer mehr Menschen süchtig zu machen und sie dazu zu bringen, immer mehr Zeit im System zu verbringen.“
☛ Zweitens die Individualisierung: Dabei bekommt jeder Nutzer der Social Accounts – algorithmusgetrieben – personalisierte Werbung, Nachrichten und Links zugespielt. Keiner weiß daher, was sein Nachbar liest, denkt oder worauf er antwortet. Die Ergebnisse sind einerseits Blasen politisch Gleichgesinnter, die mit politisch anders Denkenden nicht mehr interagieren können, anderseits ein Fragmentieren der Gesellschaft, letztlich töte es Empathie und Mitgefühl. „Wir müssen nicht alle das Gleiche sehen, um uns verstehen zu können. […] Aber wir müssen durchaus in der Lage sein, einen Eindruck von dem zu bekommen, was andere sehen.“

☛ Und drittens die Intransparenz: Diese Prozesse der Zuteilung von Nachrichten und der Einteilung der Menschen in bestimmte Kunden- und Wählergruppen sind nicht durchschaubar, laufen unkontrolliert hinter den Kulissen ab. So schreibt Lanier etwa, er hätte kein Problem damit, sich einem fairen Wettbewerb nach einsehbaren Regeln zu stellen, etwa wenn er sich um eine Förderung für ein bestimmtes Projekt bewerbe. Die Algorithmen, nach denen Menschen bewertet und eingestuft werden, nach denen ihnen die unterschiedlichsten elektronischen Häppchen zugeteilt werden, sind allerdings völlig undurchsichtig und oft fehlerhaft.
Darüber hinaus treiben sich im Web Millionen von Fake People herum, manipulieren Hotelbewertungen und Produktbeschreibungen, verbreiten politische Bösartigkeiten und medizinischen Unsinn: „Es wimmelt nur so von Fake People, in unbekannter, aber riesiger Zahl, und sie bestimmen die Atmosphäre. Bots. KI-Systeme, Agenten, Fake-Reviewer, Fake-Freunde, Fake-Follower, Fake-Poster, automatisierte Catfisher, eine riesige Menagerie von Gespenstern.“
Seine Entscheidung aus diesen Gründen ist klar: Man möge sich von diesen Plattformen verabschieden und sein Leben im Web anders organisieren: mit Freunden via E-Mail kommunizieren, Nachrichtenseiten direkt bei den Medien anklicken oder abonnieren, Kultur- und Eventtipps selbst lokal zusammenstellen. „Kann es sein, dass es auf lange Sicht wichtiger ist, wenn man auf seine innere Stimme hört oder einer Leidenschaft für Moral oder Schönheit nachgibt, selbst wenn das auf kurze Sicht als weniger erfolgreich beurteilt wird? Kann es sein, dass es wichtiger ist, einige wenige Menschen auf einer tiefen, ernsthaften Ebene zu erreichen als alle Menschen mit Nichts zu erreichen?“
Hier erinnert Lanier schon an das Ende eines Buchklassikers aus dem 18. Jahrhundert. Voltaire lässt seinen Helden Candide nach dessen abenteuerlicher Reise auf der Suche nach Reichtum, Liebe und Glück geläutert, aber gar nicht resigniert sagen: „Wir müssen unseren Garten bestellen.“

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