Menschen wie Du und ich

Israelis lieben „Human Touch Stories“, Kreativität, Mut und Humor. In einem jährlichen Event mit dem etwas sperrigen Namen Menschen, die normalerweise nicht vortragen finden sich alle diese Zutaten und viel davon.

1997
© Daniela Segenreich

Wenn ich die Toten vorbereite, dann wasche ich sie und reinige sie von allen Unreinheiten, und dann bügle ich auch ihre Tattoos weg“, beginnt Vered Assaf ihren Vortrag über ihre Arbeit als Totenwäscherin der Chevra Kaddischa, der Organisation, die die jüdischen Friedhöfe verwaltet und die Bestattungen organisiert. Dann kommt ein schelmisches Lächeln über das Gesicht der jungen streng-religiösen Frau, die mit Turban und langärmligem, hochgeschlossenen Kleid auf der Bühne steht: „Das war natürlich ein Witz, Tätowierungen sind zwar von den religiösen Gesetzen her verboten, aber natürlich bleiben sie!“ Vered war letztes Jahr eine der sechs Sprecher/innen, die bei Menschen, die normalerweise nicht vortragen in Tel Aviv aus ihrem Leben erzählten.
Israelis können gar nicht genug bekommen von „Human Touch Stories“, also von Geschichten, die auf wahren, menschlichen, persönlichen Erlebnissen beruhen. Und sie lieben innovative, kreative Events mit möglichst viel Humor. Bei Menschen, die normalerweise nicht vortragen finden sie all das und viel davon. Diesen Sommer fand die Veranstaltung zum fünften Mal statt, mit einem faszinierenden Cocktail von Sprechern, die ihre Erlebnisse und Lebensgeschichten mit viel Ehrlichkeit und Humor in zwei Durchgängen mit jeweils zweitausend Zuhörern im Publikum teilten.

»Eine Geschichte, die vom Herzen kommt, berührt auch die Herzen der anderen.«
Veranstaltergruppe Ze Ze

„Versuchen Sie nicht herauszufinden, wann es kommt“, witzelt da Nevo Cohen, ein junger Psychologiestudent, auf der Bühne und bezieht sich dabei auf seine Ticks, wie Stottern, Fluchen und verschiedene Gesten, die der seit der Pubertät am Tourette-Syndrom Leidende nicht unter Kontrolle hat. Er erzählt offen und humorvoll über seine Kindheit, über den Ausbruch des psychiatrischen Syndroms und darüber, wie er im Laufe der Jahre in den verschiedensten Situationen damit besser oder schlechter zurechtkommt, wenn er beispielsweise ein Rendezvous hat oder bei der Arbeit.

Human Touch Stories sind die Stärke von Menschen, die normalerweise nicht vortragen. © Daniela Segenreich

Ausgesucht und vorbereitet werden Nevo und die anderenSprecher von Dafi Alpern, die das Konzept von Menschen, die normalerweise nicht vortragen vor fünf Jahren miterfunden hat und als Content-Managerin fungiert: „Wir wollen Leute auf die Bühne bringen, mit denen sich die Menschen im Publikum identifizieren können. Leute, die bereit sind, auch über Dinge zu reden, die schwer zu erzählen sind.“ Die ausgebildete Schauspielerin gibt zu, dass sie anfangs bei der Vorbereitung der Mitwirkenden nach dem Prinzip von „Learning by doing“ vorging und vor allem nach ihrer Intuition handelte. Mittlerweile ist sie im Coaching der Vortragenden so effizient, dass sie auch für andere Events gebucht wird, um die Sprecher vorzubereiten: „Das ist jetzt sozusagen meine zweite Karriere geworden“, lacht sie und erklärt: „Es geht einfach darum, direkt und ehrlich auszusprechen, was alle denken oder wissen wollen – auf diesem Prinzip beruht jede gute Kommödie, jede Stand–up-Vorstellung.“

© Daniela Segenreich

Bunte Palette an Vortragenden. Es gibt viel zu lachen, aber auch ernstere und sehr berührende Geschichten, wie die von Chavi, der streng-religiösen Frau aus Jerusalem, die darüber spricht, wie schwer es ihr fiel zu akzeptieren, dass ihre Tochter aus der Religion ausgebrochen ist. „Wir haben diese Story letztlich ganz anders erzählt, als Chavi sie zuerst gesehen hat. Es ist mir darum gegangen, das allgemein Gültige herauszuarbeiten, sodass auch nicht religiöse Menschen da mitfühlen können. Der Kern der Geschichte waren für mich Chavis Gefühle und ihre Scham davor, was ‚die Leute‘ sagen würden, und wie sie plötzlich versteht, dass sie zu ihrer Tochter stehen muss“, erinnert sich Alpern.
Die Palette der Vortragenden ist neugiererregend und bunt. Da gibt es beispielweise eine Geburtshelferin, einen Verfasser von Reden für bekannte Persönlichkeiten, einen Flüchtling aus Darfur, einen Privatdetektiv oder einen typischen Tel Aviver Single … Beim letzten Event in Tel Aviv gelang es Alpern auch endlich, eine Frau aus dem Sexgeschäft auf die Bühne zu bringen. Bei den vorhergehenden Vorstellungen sind zwei solche Frauen in den letzten Wochen knapp vor der Show ausgestiegen. Es ging nicht so sehr um das Reden vor dem großen Publikum, sondern um die Angst, dass jemand sie erkennen könnte …
Schließlich fand sich „Loren“, die sich traute, ihren Werdegang zur Prostituierten zu beschreiben und über ihre Wandlung und das Zurückfinden ins „normale“ Leben zu sprechen. Doch sie ist die Einzige, deren Foto im Katalog nicht zu finden ist und die mit Perücke und unter falschem Namen auftritt.
Den Veranstaltern, einer Gruppe von jungen Israelis mit dem Namen Ze Ze, geht es darum, Geschichten aus dem Leben von Leuten zu erzählen, die normalerweise nicht gehört werden. „Erfolgsgeschichten gibt es viele“, lautet ihr Credo, „aber wir wollen ‚normale‘ Leute zeigen und mit ihren echten und berührenden Storys Empathie im Publikum kreieren und damit Stigmata abbauen und etwas im Denken der Menschen und in ihrer Sicht auf die Dinge verändern. Eine Geschichte, die vom Herzen kommt, berührt auch die Herzen der anderen.“ Die Einnahmen aus den immer rasch ausverkauften Veranstaltungen kommen anderen sozialen Projekten der Gruppe zu, wie zum Beispiel Zotzot, einer Druckerei, deren ausschließlich weibliche Angestellte und Designerinnen ehemalige Sträflinge sind, oder den Straßen-Philharmonikern, einer Gruppe von aus verschiedenen Teilen der Welt eingewanderten Musikern, deren breites Repertoire von den ethnischen Einflüssen ihrer Herkunftsländer geprägt ist.
Und inzwischen gibt es die Vortragsreihe auch schon in vielen anderen Städten in Israel und in der Welt, so zum Beispiel in Washington, San Francisco, New York und Buenos Aires.

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