„Nostalgie nach Europa“

Obwohl bereits die Großeltern nach Brasilien auswanderten, fühlt sich der Enkel nach wie vor der früheren Heimat der Familie in Wien verbunden. Das spiegelt sich auch im Werk des Literaturprofessors, Übersetzers und Autors Luis S. Krausz wider. WINA bat ihn anlässlich eines Wien-Besuches zum Gespräch.

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Luis S. Krausz. Die Zerrissenheit zwischen der Alten und Neuen Welt zieht sich durch Krausz’ Lebensgeschichte. © Editora Benvirá

Luis S. Krausz zieht es immer wieder nach Österreich. Zum siebenten Mal ist er diesen Herbst bereits in Wien, der Stadt, die seine Großeltern – Wilhelm und Alicia Krausz – als junges Paar 1925 verließen. Die wirtschaftliche Lage war schlecht, sie wollten in Brasilien ein paar Jahre arbeiten und das Familienkonto auffüllen. Dann machte sich hier der Nationalsozialismus breit, und das Paar holte auch Krausz’ Urgroßeltern nach São Paulo, wo der Enkel und dessen bereits erwachsene zwei Söhne bis heute leben. Die Sehnsucht der Großeltern nach Österreich aber blieb, erzählt der Enkel heute. Mehr noch: „Irgendwie blieb diese Nostalgie nach Europa Teil der Familienkultur.“
In Wien las Krausz im Zentrum im Werd aus seinem jüngst im Verlag Hentrich & Hentrich auch auf Deutsch erschienenen Roman Das Kreuz des Südens. Darin schildert er Eindrücke einer Reise, die er als 15-Jähriger mit seiner Großmutter unternahm und die ihn nach Rolândia in Paraná führte (siehe auch Kasten zum Buch). Dort waren hunderte Familien aus Deutschland zu Kaffeepflanzern geworden.
Als Krausz der Siedlung in den 1970er-Jahren einen Besuch abstattete, „war ich von dieser eigenartigen Lebensweise damals sehr beeindruckt. Das war so eine Mischung zwischen brasilianischer ländlicher Armut und hochbürgerlicher deutscher Kultur. Das passte einfach nicht zusammen, das war sehr merkwürdig“, erinnert er sich. Die Auswanderer seien schon ältere Damen und Herren gewesen, „und sie begannen damals, auch ihre Landgüter zu verkaufen und an Pensionierung zu denken. Und das war auch irgendwie das Ende dieser eigenartigen Welt.“ Die Kinder der Auswanderer seien meist in brasilianische Städte gezogen oder sogar zurück nach Deutschland gegangen. Wenn überhaupt hätten sie nur ein kleines Stück Land mit dem alten Haus behalten. „Landwirte sind sie längst nicht mehr.“
Die Zerrissenheit zwischen der alten und neuen Welt zieht sich durch Krausz’ Lebensgeschichte. In Wien schlendert er auf den Spuren von Veza Canettis Die gelbe Straße durch die Leopoldstadt und versucht die Vergangenheit zu erspüren. São Paulo beschreibt er dagegen als „Stadt ohne Erinnerung, ohne Tradition“. Als seine Großeltern nach Brasilien emigrierten, hätten an die 200.000 Menschen dort gelebt, heute seien es 18 Millionen. „Es wird alles abgerissen und dann neu gebaut. Und wieder abgerissen. Ständig.“ Warum er dennoch dort bleibe? „Man gewöhnt sich. Ich habe mein Leben so eingerichtet, dass es einigermaßen geht, aber dass ich die Stadt als angenehm empfinde, wäre schon ein bisschen übertrieben.“
An Emigration hat Krausz nicht nur immer wieder gedacht, er hat sie auch versucht. Zum Studium ging er in die USA, zunächst an die Columbia University nach New York, dann an die University of Pennsylvania. Seine Studienfächer: Klassische Philologie und Hebräisch. „Aber das Leben in Amerika gefiel mir gar nicht.“ Später zog er, bereits verheiratet, nach Zürich, um dort an seiner Nachdiplomarbeit zu arbeiten. „Das gefiel mir einerseits sehr gut – andererseits war es mir auch eine sehr fremde Welt. So ging ich schließlich nach São Paulo zurück.“

Luis S. Krausz: Das Kreuz des Südens. Hentrich & Hentrich 2019, 296 S., € 20,50

Deutsch-österreichische jüdische Kultur. Auf seinen internationalen Stationen und weiteren Reisen, etwa nach Israel, machte Krausz allerdings eine interessante, immer wiederkehrende Erfahrung: Die Wohnungen deutschsprachiger Juden, die er in São Paulo als so unterschiedlich zu jenen anderer brasilianischer Familien empfunden hatte, begegneten ihm überall dort auf der Welt wieder, wo österreichische oder deutsche Juden eine neue Heimat gefunden hatten. Krausz beschreibt es als „deutsch-österreichische jüdische Kultur“, was ihn an diesen Wohnungen faszinierte. „In den Bücherregalen standen deutsche Bücher. Deutsche Musik war wichtig und so eine gewisse Art von Wohnkultur. Man hatte Bilder aus Europa mitgebracht, auch Musikinstrumente, Besteck, Porzellan. Und es gab diese schweren dunklen Möbel.“ Die Auswanderer kleideten sich und sprachen auch ähnlich. „Es war überall, egal ob in Haushalten in New York oder Israel oder São Paulo, eine ähnliche Atmosphäre.“
Krausz, der heute eine Professur für jüdische und hebräische Literatur an der Universität São Paulo innehat, war zeitweilig auch als Journalist tätig – so berichtete er anlässlich der so genannten Wenderegierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (Schwarz-Blau I) aus Wien. „Damals habe ich die Proteste am Heldenplatz miterlebt und mit Robert Menasse gesprochen.“ Vor allem aber übersetzt er Romane aus dem Deutschen ins Portugiesische – und ist selbst als Autor tätig.
Krausz übertrug etwa Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin ins Portugiesische. Er übersetzte Thomas Manns Königliche Hoheit, Gregor von Rezzoris Denkwürdigkeiten eines Antisemiten und Joseph Roths Radetzkymarsch. Warum er diese Autoren ausgesucht hat? „Was mich daran fasziniert, ist die Beziehung zum alten Mitteleuropa. Und zu meinen eigenen Wurzeln. Durch diese Autoren kann ich auch meine eigene Familiengeschichte irgendwie besser kennen. Woher komme ich?“
Mit dieser Frage setzt er sich auch in den eigenen Romanen auseinander. Oft geht es in seinen Geschichten um die Brüche in den Leben von Menschen, um neue Existenzen im Exil. Dabei ist auch Identität immer ein Thema. Fühlt er sich eher als Brasilianer oder eher als Österreicher? „Beides. Viele Leute in Brasilien fragen: Woher kommen Sie? Wo sind Sie geboren? Ich bin in Brasilien geboren, mein Vater ist in Brasilien geboren. Und meine Mutter ist in Brasilien geboren. Aber irgendetwas Fremdes bleibt trotzdem übrig.“ Auf die Frage, ob er aber doch sicher akzentfrei Portugiesisch spreche, sagt er: „Ja. Aber es gibt Leute, die sagen nein, Sie haben doch einen Akzent.“
Ob er eine Ahnung habe, was das Fremde an ihm in Brasilien sei? „Es ist schwer zu sagen. Gewohnheit und Geschmack. Wie man eigentlich ist, was einem liegt.“ Ob seinen Kindern auch noch die Frage gestellt werde, woher sie eigentlich stammen? „Ich glaube nicht. Aber sie sehen auch nicht sehr brasilianisch aus.“ Die Bevölkerung in Brasilien bestehe zum größten Teil aus Mischungen, „vor allem aus Afrikanern und Europäern. Natürlich sieht die jüdische Bevölkerung anders aus.“
Luis S. Krausz ist in seiner Familie die letzte Generation, die Deutsch spricht. Seine Frau beherrsche kein Deutsch, mit seinen Söhnen die Sprache der Vorfahren zu sprechen, das wäre ihm unnatürlich erschienen. Vor allem nach dem Tod seiner Großmutter, aber auch seines Vaters in den 2000er-Jahren, da habe er realisiert, „dass ihre Welt verschwunden war. Und dass ich noch die Erinnerungen und Spuren dieser Welt aufspüren konnte, aber dass ich der Letzte war.“
Vor Kurzem hat Krausz sein erstes selbst auf Deutsch geschriebenes Buch fertiggestellt, für das er noch eine Publikationsmöglichkeit sucht. Das heimliche Museum hat er es genannt, und der Titel trifft das darin Beschriebene gut. Nach dem Tod der Großmutter öffnete er einen Kasten, in dem sich ein Sammelsurium an Erinnerungen befand, darunter viele Fotos. Die Großmutter habe zu ihren Lebzeiten immer wieder gesagt, „die müssen wir einmal anschauen“, aber nie sei es dazugekommen. So musste er zu all den Gegenständen, Dokumenten, Fotos, die die Großmutter hinterlassen hat, Nachforschungen anstellen. „Ungefähr 90 Prozent der Fotos konnte ich schließlich identifizieren.“
In dem Kasten fanden sich Postkarten, die die Großmutter als junge Frau in Venedig gekauft hatte, Postkarten, die der Großvater der Großmutter nach Portoroz und Piran geschickt hatte. „Da war ein Dominospiel, das gehörte meinem Urgroßvater. Und seine Monatskarte der Wiener Straßenbahn.“ Ein Bild von Joseph II., das habe der Urgroßvater aus Wien mitgebracht, und dieses Bild habe die Großmutter sehr geschätzt. Die Sehnsucht der Großeltern nach der alten Heimat sei jedenfalls noch nach deren Tod – der Großvater starb bereits 1973, die Großmutter 2004 – spürbar gewesen. So interpretiert der Enkel auch, dass der Großvater für eine deutsche Firma – Mannesmann – zu arbeiten begann und dabei mit Menschen zu tun hatte, die in der NS-Zeit wohl auf der anderen Seite zu finden waren.

Wirklich viel sei über die Nazis in Brasilien aber nicht gesprochen worden. „Man wollte vielleicht einen Stein drauflegen und nach vorne schauen.“
Luis S. Krausz

Aus mehreren Teilen. Krausz interpretiert das aber auch als den Versuch, „die Vergangenheit zu verdrängen, zu vergessen und in die Zukunft zu schauen“. Nur so kamen viele jüdische Bewohner São Paulos auch damit zurecht, dass nach dem Zusammenbruch des NS-Terrorregimes auch deutsche Nazis nach Brasilien kamen und sich just dort ansiedelten, wo bereits die jüdischen Emigranten Teil der deutschsprachigen Communities geworden waren. In São Paulo fand etwa Josef Mengele zunächst Zuflucht, aber auch Gustav Franz Wagner. Als dieser verhaftet wurde, war dies sowohl in der Zeitung zu lesen wie auch Gesprächsthema unter São Paulos deutschsprachigen Jüdinnen und Juden. Wirklich viel sei über die Nazis in Brasilien aber nicht gesprochen worden. „Man wollte vielleicht einen Stein drauflegen und nach vorne schauen.“
An monolithische Identitäten glaubt Krausz nicht. „Wir sind ja alle aus mehreren Teilen gemacht.“ Wie er sich selbst sieht? „Für mich ist alles wichtig – Brasilianer zu sein und vor allem die portugiesische Sprache. Und dann die österreichisch-jüdische Abstammung, die deutsche Sprache und die jüdische Kultur, das jüdische Schicksal, die jüdische Geschichte.“ All das sei ineinander verwoben.
Dennoch zieht es ihn langfristig nicht nach Wien. „Vielleicht suche ich hier Sachen, die mehr mit der Vergangenheit zu tun haben als mit der Gegenwart.“ Und: So sehr er auch mit São Paulo hadere: „Es gibt doch vieles in São Paulo, was mir gut gefällt. Die aktuelle politische Situation ist zwar schrecklich – über mein persönliches Leben kann ich mich aber nicht beklagen. Ich wohne unweit von der Universität, wo ich arbeite, die Universität ist sehr schön und grün, obwohl unsere Stadt sehr hässlich und grau ist. Irgendwie habe ich mein persönliches Leben ganz gut organisiert und bin damit zufrieden. Aber wenn man sich die brasilianische Gesellschaft ansieht und die Probleme, die es dort gib, ist es manchmal schon schwierig. Man muss ein bisschen Scheuklappen aufsetzen.“
Mehr als unglücklich ist Krausz mit dem amtierenden Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, nicht zuletzt wegen dessen Umgang mit dem Regenwald. Hier hofft der Autor auf mehr internationalen Druck, um dem Niederbrennen des Waldes Einhalt zu gebieten, schließlich sei das klimabeeinflussend und daher von globaler Bedeutung. Als Schande empfindet er zudem, dass ein Teil der jüdischen Gemeinden „diesen rechten Präsidenten unterstützt“. Da gehe es um die Freude, dass die alte, linke Regierung abgesetzt wurde, aber auch um den Diskurs um Israel. Bolsonaro präsentiere sich als Präsident, der Israel verbunden sei.
„Man hat aber immer die Hoffnung, es werden bessere Zeiten“, sagt Krausz. Seine Großeltern hatten immer die Hoffnung, eines Tages doch nach Europa zurückzukehren. Am Ende hatten sie es sich, nicht zuletzt wirtschaftlich, in São Paulo jedoch bereits zu angenehm eingerichtet. Sich das Leben anderswo noch einmal aufzubauen, erschien da doch nicht erstrebenswert. Vielleicht geht es dem Enkel ein bisschen ähnlich. In São Paulo lebt seine Familie, dort ist er Teil der akademischen Welt, aus der ihn die eine oder andere Reise kurz herausführt, bevor er wieder in seinen Alltag zurückkehrt.


Festhalten an deutscher Lebensart
Im Alter von 15 Jahren reiste der Ich-Erzähler des Romans Das Kreuz des Südens Mitte der 1970er-Jahre in die Siedlung Rolândia im brasilianischen Bundesstaat Paraná. 1932 hatte die Berliner Gesellschaft für Wirtschaftliche Studien in Übersee ein Urwaldareal gekauft und Rolândia als neuen Lebensort für rund 400 deutsche Familien gegründet. Sie stammten großteils aus einem urbanen bürgerlichen Milieu und verpflichteten sich nun, hier Land zu bewirtschaften – meist betrieben sie Kaffeeplantagen. Unter ihnen fanden sich auch zunehmend Juden und Jüdinnen, die vor dem Nationalsozialismus flüchteten.
Luis S. Krausz porträtiert fiktive Bewohner der Siedlung, die weit entfernt der Heimat, aus der sie vertrieben wurden, und Jahrzehnte später immer noch an ihrem sehr deutschen way of life festhalten. Und so ist Das Kreuz des Südens vor allem eines: eine Beschreibung einer Welt, die es so heute nicht mehr gibt, denn die ursprünglichen Auswanderer sind verstorben, die deutsch-jüdischen Spuren verlieren sich.
Krausz lässt sie noch einmal vor unserem inneren Auge aufleben, etwa in Gestalt der Figur Dr. Fritz Hinrichsen, dessen ganzer Stolz seine Briefmarkensammlung ist, die auch Marken aus der Weimarer Republik enthält, oder in Form der prächtigen Teppiche im Anwesen der Familie Kirchheim, die einst aus dem Orient ihren Weg in ein Kontor in Leipzig gefunden hatten, um dann nochmals um den halben Erdball nach Brasilien zu reisen. Vieles, was Krausz beschreibt, wirkt angesichts der äußeren Umstände schrullig und nahezu dekadent. Eindringlich führt er dabei aber auch vor Augen, wie schwer es Menschen, die flüchten müssen, fällt, wirklich alles hinter sich zu lassen. Das gelingt erst den nachfolgenden Generationen.

Luis Sergio Krausz, geb. 1961 in São Paulo, dort aufgewachsen, Studium der klassischen Philologie und Hebräisch an der Columbia University in New York, der University of Pennsylvania und an der Universität Zürich. Krausz ist Professor für hebräische und jüdische Literatur an der Universität São Paulo, ist zudem Übersetzer (er übertrug etwa Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin, Thomas Manns Königliche Hoheit und Joseph Roths Radetzkymarsch vom Deutschen ins Portugiesische) sowie Schriftsteller. Zuletzt erschien auf Deutsch sein Roman Das Kreuz des Südens bei Hentrich & Hentrich. Krausz lebt in São Paulo, ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Söhne.


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