„Sag mir, wie ich heiße“

In seinem Roman Der Tunnel kämpft der große Erzähler Abraham B. Jehoshua gegen die Schwächen des Alters.

1930
Abraham B. Jehoshua: Der Tunnel. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Nagel & Kimche, 368 S., € 24,70

Er hat’s mit den Namen. Genauer gesagt, mit den Vornamen, die ihm immer öfter einfach nicht einfallen wollen. Nun wäre eine gewisse Namensschwäche bei zunehmender Altersschwäche an sich noch kein gröberes Problem, gäbe es da nicht eine kleine verdächtige Stelle an der Hirnrinde, die der Neurologe eindeutig erkennen kann.
Zu Rate gezogen wurde der Arzt, als Zvi Luria eines Tages fast ein falsches Kind statt seines Enkels aus dem Kindergarten abgeholt hätte. Dass sich dieses großvaterlose Geschöpf an ihn angehängt hatte, ist eine andere Geschichte, deren Wurzeln übrigens noch in einem früheren Roman von Abraham B. Jehoshua zu finden sind.
Und die kecke Herausforderung einer Bekannten, „Sag mir, wie ich heiße“, an der er scheitert, wirft den pensionierten Straßenbauingenieur vollends aus der Bahn. Doch gegen seine beginnende Demenz, um zumindest dieses vielfach verharmlosend umschriebene Phänomen beim harten Namen zu nennen, nimmt vor allem seine Ehefrau Dina, eine vor der Pensionierung stehende Kinderärztin, beherzt den Kampf auf. Ein weiterer Demenz- oder Alzheimer-Roman ist Der Tunnel dennoch nicht. Dazu ist er viel zu israelisch, dazu drängen sich allzu viele politische, gesellschaftliche und zwischenmenschliche Probleme unabweislich ins Geschehen.

Der Assistent. Eine geheime Militärstraße soll gebaut werden, und das mitten im Naturschutzgebiet des Ramon-Kraters, für die Grünen des Landes „so etwas wie das Himmlische Jerusalem“. Mit der Planung betraut ist der junge Nachfolger Lurias, dem Dina listigerweise ihren erfahrenen Ehemann als ehrenamtlichen Assistenten unterjubeln kann. Denn nicht nur die eheliche Lust, auch eine sinnvolle Beschäftigung hat der Neurologe als Therapie für die „Seele“ empfohlen. Erkundungen des Geländes in der Wüste bringen eine Begegnung mit einer staatenlosen palästinensischen Familie, Vater, Sohn und eine wunderschöne Tochter, die in einer uralten Nabatäer-Siedlung auf einem Hügel Zuflucht gefunden hat. Um sie zu schützen, beschließen die beiden Ingenieure, für den Straßenverlauf einen Tunnel durch den Hügel zu führen, anstatt diesen abzutragen, was weitaus kostengünstiger wäre. Dieser Tunnelplan fordert die geistigen, körperlichen und menschlichen Kräfte Lurias nochmals gehörig heraus, sich häufende Fehlleistungen in seinem Alltag lassen sich aber dennoch nicht verhindern.

„Glauben Sie tatsächlich an dieses Land?“,
fragt eine skeptische junge Frau.
„Habe ich eine Wahl?“, antwortet Luria.

Road-Movie. Ausufernd, abschweifend, mäandernd, nicht selten geschwätzig, doch voll leiser Ironie, Selbstironie und feinem Humor, wie es nun einmal seine Art ist, erzählt Jehoshua von den vielen kleinen und größeren Gefechten, denen Luria sich stellen muss. Im Großen ist es ein Kampf um die menschliche Würde angesichts schwindender geistiger Kräfte, im Kleinen ein täglicher Kampf um Namen, Daten und Zahlen. Den Code seines Fahrzeugs lässt er sich in den Arm eintätowieren!
Erkämpft werden will gegen jede Menge Widerstände letztlich auch der Tunnel in der staatlichen Baubehörde, und da kommen dem alten Fuchs seine Erfahrung und anerkannte Expertise zu Hilfe. Jehoshua wiederum bietet sich dabei die Gelegenheit zu kleinen Ausritten gegen Bürokratie und Korruption, so etwa breitet er genüsslich eine im Bauausschuss (!) geführte theologisch-historische Diskussion über den Götzenglauben der Nabatäer aus.
Einem Road-Movie gleich quert der Erzähler gemeinsam mit seinem vergesslichen Helden das Land, streift seine Geschichte und trifft auf seine Bewohner, Palästinenser und Juden, und ihre oft bizarren Konflikte. „Glauben Sie tatsächlich an dieses Land?“, fragt eine skeptische junge Frau. „Habe ich eine Wahl?“, antwortet Luria, gleichsam für den Autor.

Alterswerk. Gewidmet hat Jehoshua diesen Roman, der nicht zuletzt ein Hohelied auf die eheliche Liebe ist, seiner 2016 verstorbenen Rivka. In der unendlich liebevoll gezeichneten Kinderärztin Dina dürften sich viele Züge der Psychoanalytikerin wiederfinden, die über ein halbes Jahrhundert an seiner Seite war. Auch in der Angst vor dem drohenden Gedächtnisverlust ließen sich vielleicht Bezüge zum über 80-jährigen Autor feststellen. Denn wie die geheime Militärstraße letztlich ziellos im Wüstensand verläuft, entgleitet auch dem routinierten Erzähler am langen Weg nunmehr so mancher Handlungsfaden. Doch das Alterswerk eines Großen wie A. B. Jehoshua will mit Milde betrachtet und mit Geduld gelesen sein.


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