„Schande für die Gojim“

Die Tatsache, „dass Juden in der Diaspora eine geringere Kriminalitätsrate aufweisen als die Durchschnittsbevölkerung der Länder, in denen sie leben“, auf die Gisela Dachs im Vorwort hinweist, erklärt vielleicht, warum die in ihrem Almanach versammelten „Geschichten aus der jüdischen Unterwelt“ weit weniger juicy ausfallen, als der Titel Sex & Crime erwarten lassen könnte.

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Gisela Dachs (Hg.): Sex & Crime. Geschichten aus der jüdischen Unterwelt. Suhrkamp Verlag, 200 S, € 20,60

Warum stört es uns Juden in der Diaspora so, wenn wir von jüdischen Verbrechern irgendwo in der Welt erfahren? Was haben wir hierzulande mit Bernard Madoff oder Harvey Weinstein zu tun? Neben ihren verachtenswerten Straftaten haben sich diese schwarzen Schafe einer an sich gesetzestreuen Gemeinschaft eines besonderen Vergehens schuldig gemacht: Sie haben Schmach über das jüdische Volk gebracht. „Schande für die Gojim“, also Schande vor den Nichtjuden. Diese sei umso größer, wenn die Täter antisemitischen Stereotypen wie dem des jüdischen Gauners oder des geilen Mädchenschänders entsprechen, stellt der Journalist Michael Wuliger in seinem Beitrag über das Phänomen dieses spezifisch jüdischen Fremdschämens fest, das im Übrigen in Israel nicht zu beobachten ist. Dort ist man längst in der gesellschaftlichen Normalität angekommen, zu der auch die Kriminalität zählt, über die man sich nicht mehr erregt als in allen zivilisierten Ländern der Welt auch.

»In der jüdischen Religion
war der Sex nie eine Sünde.«
Ruth Westheimer

Über 3.000 Jahre spannt sich der zeitliche Bogen des Bandes, wenn der Arzt und Psychotherapeut Schimon Staszewski die Strafgerichtsbarkeit der Thora untersucht, die israelische Juristin Orit Kamir hingegen die ganz aktuelle #MeToo-Debatte um einen erstaunlichen Aspekt ergänzt. Bereits 1998 verabschiedete nämlich die Knesset als weltweiter Vorreiter ein von ihr initiiertes Gesetz gegen sexuelle Belästigung. Dieses werde nun durch „Beschämungstaktiken“ der #MeToo-Bewegung unterminiert, denn diese vernachlässige die Grundsätze der Fairness und Verhältnismäßigkeit den Beschuldigten gegenüber, beobachtet die um Rechtsstaatlichkeit bemühte Feministin.
In die jüngere Vergangenheit, auf die amerikanisch-jüdische Gangsterszene der 1930er-Jahre mit ihrem legendären Boss Meyer Lansky und ihrem ambivalenten Ruf als skrupellose Beschützer der jüdischen Gemeinschaft vor brutalen Antisemiten, blendet Robert Rockaway.
An eine viel harmlosere „Kosher Nostra“ im Wien der Nachkriegsjahre mit kleinen Schiebern, Schmugglern und Schwarzmarktkönigen erinnert sich Daniela Segenreich in ihrem sehr persönlichen Rückblick auf diese ganz spezielle „Unterwelt“.
Den versprochenen Sex-Appeal lösen zum Beispiel Betrachtungen über die Erotik des Hohelieds und generell über die Rolle der Sexualität in der Bibel ein, auf die sich auch die Autorin der „Himmlischen Lust“ Ruth Westheimer beruft. Nur, „weil in der jüdischen Religion der Sex nie eine Sünde war“, könne sie so frei darüber sprechen, stellt die weltweit berühmte amerikanische Sex-Expertin fest.
So einfach ist’s denn doch nicht, wie man tiefer gehenden Beiträgen etwa über die Homosexualität und damit verbundenen interessanten halachischen Fragen entnehmen kann, die, wie mehrere andere auch, offen bleiben müssen.

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