Serge et drugs et Rock ’n’ Roll

Intensität, Kreativität, Exzesse, Leidenschaft – Günter Krenn hat mit Serge & Jane ein schönes Doppelporträt von Serge Gainsbourg und Jane Birkin geschrieben.

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Leidenschaft in Bildern: Serge und Jane am Flughafen Heathrow, 1977. ©Tony Frank; MARKA/Alamy Stock Photo

Es ist unübersehbar, das Haus von Serge Gainsbourg. Es fällt in der Rue de Verneuil im 7. Arrondissement von Paris, ziemlich genau auf halber Strecke zwischen dem Café Les Deux Magots am Boulevard Saint-Germain und dem Musée d’Orsay, auf. Nicht, weil es niedriger ist als die übrigen Häuser in der Straße, nicht, weil es über Baumbestand verfügt, auch nicht, weil es von der Straße nicht einsehbar ist, sondern wegen seiner Mauer, die mit einem Spinnwebnetz unzähliger Sgraffiti übersät ist, Hommagen von Fans. Das Haus hatte sich der Chansonnier, Texter und Komponist, eigentlich Lucien Ginsburg, 1969 gekauft; hier starb er am 2. März 1991, vier Wochen vor seinem 63. Geburtstag, an einem Herzinfarkt im Schlafzimmer, allein.
Mit Musik in der Rue de la Chine 35 im 20. Pariser Arrondissement aufgewachsen und mit seiner Familie 1941 nach Limoges geflohen, wo die Ginsburgs mehreren Razzien entgingen, studierte er später Kunst und Architektur, gab dies zugunsten der Musik auf. 1955 hatte ihn ein Auftritt von Boris Vian, Autor, Jazztrompeter und Sänger, zutiefst beeindruckt. Seit 1957 trat er unter dem Künstlernamen „Serge Gainsbourg“ auf. Jane Birkin: „Lucien Ginsburg war der schüchterne, jüdische Flüchtling, der sich hässlich fand und über den die Huren lachten, weil er so jung aussah. Serge Gainsbourg bedeutete, eine Rüstung anzulegen. Danach begann er, seine Lieder selbst zu singen. Eines nach dem anderen.“
1958 erschien seine erste LP, Du chant à la une, der rasch weitere folgten. Vor allem schrieb und komponierte er für andere. „Seine Liedtexte waren irrsinnige Meisterstücke franglischer Mehrdeutigkeiten und rhythmische, lautmalerische Wortkaskaden. Sexuelle Besessenheit, Inzest, Furzen, Koprophagie, Literatur, Philosophie, Grammatik, faschistische Konzentrationslager, Trottel und Tankerunglücke, all diese Dinge waren willkommene Themen für seine Songs“, so seine Biografin Sylvie Simmons. Als Komponist und Produzent lancierte er zahlreiche Nummer-1-Hits, schrieb Filmmusiken und trat, physiognomisch unübersehbar – Sylvie Simmons nannte ihn „eine elegante Schildkröte, die man mit einem obs-zönen, kettenrauchenden Wolf gekreuzt hatte“ – selbst als Schauspieler auf, etwa in Le Pacha/Der Bulle mit Jean Gabin von 1968 (wofür er extra den Song Requiem pour un con – Nachruf auf ein Arschloch – schrieb).

Leidenschaft in Bildern: das „Paar des Jahres 1969“. ©Tony Frank; MARKA/Alamy Stock Photo

Liebe auf den zweiten Blick. Ein Jahr später wurde seine Beziehung zu Jane Birkin fest. Sie hielt zwölf Jahre lang. Darüber hat nun, nachdem 2010 der Comiczeichner Joann Sfar (Die Katze des Rabbiners) das Film-Biopic Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte realisierte, Günter Krenn ein so lesbares wie lesenswertes Buch geschrieben. Krenn brachte bereits 2013 ein Doppel-Amour-Porträt heraus: Romy & Alain über Romy Schneider und Alain Delon.

„In mir ist es unauslöschlich eingebrannt. Ein kleiner Junge mit dem gelben Stern – es war, als wäre man ein Stück Vieh, das mit einem glühenden Eisen gezeichnet wurde.“
Serge Gainsbourg

Serge und Jane, der Franzose mit der unverwechselbaren „gueule“, der verlebten Visage, und die gertenschlanke Engländerin, das war eine Glitzer-Liaison, gegen die selbst Liz Taylor & Richard Burton schulchorhaft anmuteten. Beim ersten Zusammentreffen, dem Dreh eines gnädig vergessenen Films, war Gainsbourg göttlich arrogant und sehr irdisch grob, und Jane die ephebenhafte, frisch geschiedene Nachwuchsschauspielerin. Doch, verblüffend, es wurde Liebe auf den zweiten Blick. Das erste Date war bedeutsam grotesk: Er schleppte sie in einen Nightclub, dann in ein Transvestiten-Varieté, dann ins Hotel Hilton, wo sie sich im Bad einschloss und er sturzbetrunken auf dem Bett einschlief. Am nächsten Morgen, er schlief noch immer tief, kaufte sie eine Single von ihm und steckte sie ihm zwischen die Zehen seines Fußes. Bald nahmen sie Skandalöses auf, das die BBC ebenso wie der Vatikan boykottierte. Sein Temperament, erkannte sie, war: Abwehr von Schüchternheit.
Die Gainsbourg-Birkin-Duodez-Zeit waren Jahre der Verspieltheit und der Auf-Spaltung, Gainsbourg hatte schon zuvor Dr Jekyll und Mr Hyde besungen, nun lebten sie und er ein Doppelleben, außen war innen war außen, öffentlich war privat, ein Leben als Masken und personae. 1970 sagte Jane, mit der Krenn für sein Buch korrespondierte, wie er auch viele andere der Familie und aus dem Freundeskreis befragen konnte, über das Leben mit dem Universal-Allzeitkreativen: „Manchmal ist es hart, mit ihm zu leben, aber wer will schon ein einfaches Leben?“

Günter Krenn:
Serge & Jane: Biographie einer Leidenschaft.
Aufbau 2021,
368 S., € 24,70

In den 1970er-Jahren drehte der Dauer-Gauloises-Kettenraucher Gainsbourg, der 1973 einen ersten Herzinfarkt erlitt, eigene Filme und war Ende des Jahrzehnts Frankreichs allgegenwärtiger Superstar. 1980 endete die Beziehung mit Birkin, nach Exzessen, viel Eifersucht, noch mehr Alkohol, nach Kunst, Qual, Streit, Liebe. Es folgte eine Dekade, in der er abbaute, physisch wie zusehends kreativ. In den folgenden Jahren experimentierte er mit Funk und Reggae, schrieb weiterhin Chansons für Jane Birkin, nach der Hermès eine Tasche benannte, und Catherine Deneuve (die mit ihm das von ihm getextete Sigmund-Freud-affine Chanson Dieu est un fumeur de havane sang), 1990 produzierte er das letzte Album Janes Birkins.
Auf seiner Beerdigung auf dem Cimetière Montparnasse in Paris sprachen Brigitte Bardot und der französische Staatspräsident François Mitterand. Dieser nannte Gainsbourg „unseren Baudelaire, unseren Apollinaire“. Das englische Musikmagazin Q wählte Gainsbourg auf einer Liste der 100 größten Stars des 20. Jahrhunderts auf Platz 88. Dabei hatte ein Journalist des englischen Independent noch gespöttelt: „Gainsbourg war mit einer Eigenschaft geschlagen, die sich als mächtiges Hindernis auf dem Weg zum Rockstar herausgestellt hat. Ein schlimmeres Adjektiv als blind, taub und tot: französisch.“
Eine Kindheitserinnerung hat Serge Gainsbourg, dessen Onkel in Auschwitz ermordet wurde, nie vergessen, wie er in einem Interview in den 1970er-Jahren bekannte: das vom Vichy-Regime obligatorisch vorgeschriebene Tragen des Judensterns als Jugendlicher. „In mir“, so Gainsbourg, „ist es unauslöschlich eingebrannt. Ein kleiner Junge mit dem gelben Stern – es war, als wäre man ein Stück Vieh, das mit einem glühenden Eisen gezeichnet wurde.“


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