Von Terroristen ermordet – kann ein Frieden weitergeträumt werden?

Ihr menschliches Vorbild, Vivian Silver, wurde von der Hamas ermordet: Ihre Träume leben in den Friedensaktivistinnen von Women Wage Peace weiter.

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Beim Begräbnis von Vivian Silver umarmen sich ihre Mitstreiterinnen im gemeinsamen Schmerz. Vivian wurde am 7. Oktober beim brutalen Überfall auf den Kibbuz Be’eri von Hamas-Terroristen ermordet. © flash90/Jonathan Saul

Nach den traumatischen Entführungen und blutrünstigen Massakern vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels gab es bereits nach den ersten Stunden und Tagen der Schockstarre Anzeichen dafür, dass sich die Bevölkerung im ganzen Land nicht unterkriegen lassen wird. Eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft für die Evakuierten setzte ebenso ein wie die verzweifelte Flucht in die persönliche Betriebsamkeit, um die unerträglichen Bilder im Kopf wenigstens kurzfristig zu verdrängen.

Für dieses Aushalten und Durchstehen, für das keinesfalls Aufgeben gibt es nach diesem Schrecken kein besseres Sinnbild als dieses Foto auf der Titelseite der Washington Post und der Times of Israel: Zwei Frauen halten einander fest, um ihre tiefe Trauer gemeinsam zu ertragen. Die eine ist blond, hat ein weißes T-Shirt an und dunkle Sonnenbrillen auf, die andere trägt die traditionelle schwarze Tracht der Musliminnen. Äußerst schmerzvoll erleben sie den Verlust jener Freundin, die sie beide aus ihren gegensätzlichen Welten zueinander geführt hat. „Vivian, meine Liebe, wenn du mich hörst, möchte ich, dass du weißt: ‚Hamas hat deine Vision nicht ermordet‘“, sagte Ghadir Hani, muslimische Araberin aus Akko, eine Mitstreiterin der kanadisch-israelischen Friedensaktivistin Vivian Silver, bei der Trauerfeier für die im Kibbuz Be’eri Ermordeten. Diese starke Ansage von Ghadir Hani ist der beste Beweis für die fruchtbare Arbeit der friedensbewegten Frauen von Women Wage Peace (deutsch: Frauen für den Frieden bzw. Frauen wagen Frieden).

„Vivian, meine Liebe, wenn du mich hörst, möchte ich,
dass du weißt: Hamas hat deine Vision nicht ermordet!“

Ghadir Hani

 

„Vivian war eine großartige Frau und eine enge Freundin, die ihren Traum vom friedlichen Zusammenleben von Israelis und Palästinensern fast täglich ein Stück vorantrieb und auch realisierte“, erzählt Angela Scharf, die seit 2016 für die NGO Women Wage Peace aktiv ist. „Vivian hat laufend Patienten, vor allem Frauen und Kinder, aus Gaza zur medizinischen Behandlung ins Krankenhaus nach Jerusalem oder Tel Aviv gefahren“, fügt Scharf hinzu, die mit Silvers 35-jährigem Sohn Yonathan ständig in Kontakt war, als man noch glaubte, dass die 74-Jährige am Leben und in der Gewalt der Hamas sei. „Um 11:10 Uhr früh hat Vivian noch mit ihrem Sohn telefoniert. Sie wusste recht bald, dass die Hamas im Kibbuz war, denn sie hörte Schüsse und Schreie“, berichtet Scharf. „Zehn Minuten später verabschiedete sie sich per WhatsApp von ihrem Sohn und sagte, dass sie sich jetzt im Kasten verstecken wolle.“ Erst nach fünf Wochen gelang es den Forensikern, Silvers Leiche zu identifizieren: Sie wurde noch am Morgen des 7. Oktober ermordet, das Haus gebrandschatzt.

Im kanadischen Winnipeg 1949 geboren, zog Vivian Silver im Jahr 1974 mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen nach Israel. Der Kibbuz Be’eri wurde erst ab 1990 zu ihrem Zuhause, davor lebte Silver im Kibbuz Gezer im Zentrum des Landes. Sie war Mitbegründerin des Negev Institute for Strategies of Peace and Development sowie Vorstandsmitglied der israelischen NGO B’Tselem, die sich für die Rechte der Palästinenser in der Westbank einsetzt.

Als im Sommer 2014 der letzte Gaza– Krieg über 2.200 Menschenleben kostete, begannen israelische und arabische Frauen mit dem Aufbau des landesweiten Netzwerkes von WWP, das mittlerweile mehr als 45.000 Mitglieder hat. Diese Initiative setzt sich nicht nur über religiöse, kulturelle, weltanschauliche oder Parteigrenzen hinweg, sondern definiert sich vorrangig durch die Rollen ihrer Mitglieder als Mütter, Schwestern, Ehefrauen und Töchter. Diese schafften es, einen Dialog zu etablieren, indem sie ihre Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und ihre Visionen artikuliert haben.

„Das Wichtigste ist, dass wir als israelische und arabische
Frauen gesagt haben: So schlimm es ist, wir machen
weiter. Es gibt keine andere Möglichkeit.“
Angela Scharf

Damit wollen sie nicht nur Israel, sondern auch der Region und der Welt zeigen, dass die Beilegung des israelischpalästinensischen Konflikts durch eine diplomatische Einigung möglich ist – aber auch nur mit der Einbindung eines breiten Bündnisses aus israelischen und palästinensischen Frauenorganisationen. WWP und ihre Mitstreiterinnen stützen sich auf die Resolution 1325 der Vereinten Nationen, nach der die Mitgliedstaaten seit Oktober 2000 verpflichtet sind, Frauen in friedensfördernde und -erhaltende Maßnahmen einzubeziehen. Arm in Arm gehen sie bei den mehrmals jährlich stattfindenden Friedensmärschen und Treffen: israelische und arabisch-israelische Frauen, Beduininnen aus dem Negev, Palästinenserinnen von der Westbank und orthodoxe Frauen aus den umstrittenen Siedlungen. Sie manifestieren damit, dass eine wachsende Anzahl von Menschen diesen Frieden möchte.

Apropos marschieren: Die Frauen von Women Wage Peace gehen derzeit täglich mit den Angehörigen der Geiseln demonstrieren, um für deren Freilassung zu kämpfen – auch beim mehrtätigen „Marsch nach Jerusalem“ waren sie dabei, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen.

Wie kann es nach dem 7. Oktober mit dem Dialog überhaupt weitergehen? „Am 4. Oktober, also nur drei Tage vor dem Massaker, hielten wir unsere jährliche Hauptveranstaltung ab, die wir über ein halbes Jahr lang vorbereitet hatten“, erzählt Angela Scharf. „Es kam nicht nur unsere Partnerorganisation Women of the Sun, eine palästinensische friedensbewegte Frauengruppe aus Beit Jalla (nahe Bethlehem), die auch Mitglieder in Gaza hat, mit der wir schon dreieinhalb Jahre zusammenarbeiten, sondern auch viele Gäste aus dem Ausland, z. B. aus Finnland, Belgien, Frankreich, Kanada, Australien oder Irland.“

Angela Scharf lebt in Tel Aviv, ist selbstständig in der
Textilbranche und aktiv bei Women Wage Peace. © Reinhard Engel

Weibliche Diplomatinnen sprachen zu den rund 2.000 Teilnehmerinnen am Toten Meer, darunter auch die Botschafterin Irlands, jenes Landes, das gerade das 25-jährige Bestehen des Karfreitagsabkommens feierte, die Beilegung des blutigen Konflikts zwischen Katholiken und Protestanten. „Die Hauptrednerin war Stephanie Hallett, stellvertretende Missionschefin der USBotschaft. Das war ein weiterer wichtiger Beweis dafür, wie notwendig es ist, dass Frauen am Friedensprozess beteiligt sind, dass sie mit am Tisch sitzen und die Zivilgesellschaft vertreten, denn der Frieden kann nicht von oben verordnet werden, er muss von unten nach oben gelingen“, bekräftigt Scharf.

Auch um weitere Kreise der Zivilgesellschaft zu erreichen, hatte WWP viele NichtMitglieder zu dem Treffen eingeladen und dabei die rhetorische Frage gestellt: Habt Ihr schon je mit einer palästinensischen Friedensaktivistin gesprochen, je eine persönlich kennengelernt? Auf das Staunen und Schweigen hin präsentierte WWP die palästinensische Gründerin von Women of the Sun, die in Dheisheh im Flüchtlingslager lebt, diese hielt daraufhin einen Vortrag.

Sind die Kontakte zu den palästinensischen Frauen nach dem 7. Oktober gänzlich abgebrochen? „Nein, im Gegenteil, wir haben sofort am nächsten Tag unsere arabischen Freunde in Israel angerufen, die mit den Familien auf der Westbank befreundet sind“, erzählt Angela Scharf. „Die arabischen Israelis haben ja auch Familienmitglieder, die getötet wurden – und sie wissen, dass WWP gegen jede Art von Gewalt kämpft. Sie haben auch verstanden, dass wir uns wehren müssen, aber auch die Zivilbevölkerung in Gaza geschützt werden muss. Das haben sie akzeptiert, sie haben es verstanden …“

Vivian Silver. Die 1949 in Kanada geborene Friedensaktivistin lebte seit 1974 in Israel, seit 1990 in eben jenem Kibbuz, in dem sie nun von der Hamas grausam ermordet wurde. ©www.womenwagepeace.org.il

Wichtig war es den Aktivistinnen von Women Wage Peace, jede Frau einzeln anzurufen. „Per Zoom haben wir schon kleinere Treffen gehabt, und wir planen jetzt ein größeres Zoom-Treffen mit bis zu 150 Frauen, denn im Moment können wir einander anders nicht treffen.“ Was bei Scharf durchklingt, ist die Angst, der derzeit alle ausgesetzt sind, sowohl die israelischen Araber wie auch die Palästinenser in der Westbank, die mit Juden Kontakt haben: „Jeder misstraut jedem, jede Seite sieht in der anderen mögliche Verräter.“

Als großes Versäumnis der Regierung beklagt WWP, dass sich nach dem 7. Oktober niemand um die Beduinen im Negev gekümmert hat. Mindestens 17 Bewohner der verstreuten Dörfer in der Negev-Wüste sind durch Raketenangriffe der Hamas getötet worden. „Eine Delegation von arabischen und israelischen WWP-Frauen ist zur Familie Alkraan in das Dorf Albat gefahren, um einen Kondolenzbesuch abzustatten. „Zwei Brüder, Malek Ibrahim (14) und Javed Ibrahim (15), wurden direkt von einer Hamas-Rakete getroffen. Dasselbe widerfuhr dem 11-jährigen Amin und seinem 12-jährigen Cousin Mohammed – all dies geschah in einer Familie. Wir trösteten die Töchter, die sich darüber beklagten, dass das Schutzschild Iron Dome ihr Gebiet nicht mehr erfasst.“

„Über Vivian Silver hieß es in den Nachrufen, sie sei ‚friedensliebend, entschlossen, weise und standhaft‘ gewesen, und genau so wollen wir Frauen auch an ihrer Vision arbeiten“, resümiert Scharf. „Denn das Wichtigste ist, dass wir als israelische und arabische Frauen gesagt haben: So schlimm es ist, wir machen weiter. Es gibt keine andere Möglichkeit.“ womenwagepeace.org.il

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