O tempora, o generationes

Wie man eine jüdische Mutter wird und bleibt (in Wien).

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Der Begriff der jüdischen Mutter muss hier nicht näher erklärt werden, so jedenfalls die Annahme der Autorin. Die Vielseitigkeit dieses Begriffes aber lässt durchaus doch noch weiter ausholen. Was der Unterschied zwischen einer jüdischen Mutter und einem Krokodil ist, hat mir ein lieber und geliebter jüdischer Sohn einer dazu passenden Mutter schon gesteckt. „Das Krokodil lässt irgendwann los.“ Dann seufzte er sehr, sehr tief. Meiner Erfahrung nach sind übrigens die Kinder einer jüdischen Mutter oft sehr enttäuscht, wenn sie auch mal loslässt, aber das sagte ich ihm nicht, und das lassen wir auch hier gleich wieder und schieben das beiseite. Das würde uns nur tief in analytische und sonstige dunkle Bereiche des Verdrängten führen, und wir wollen doch lebensfroh und luftig bleiben. Also: die Mutter. Der Anfang allen Seins. Über meine jüdische Mutter lässt sich sagen: Ich liebe sie von ganzem Herzen. Wirklich. Zu hundert Prozent. Aber mit aller Liebe folgt auch eine Prise Vorsicht, vor allem, was öffentliche Angelegenheiten betrifft. Hier entwickelt meine Mutter eine erstaunliche Verve im Korrigieren ihres Kindes, das in ihren Augen noch immer nicht erwachsen, wenn auch auf Wien losgelassen ist; meine Mutter, so scheint es mir, schützt manchmal eher Wien vor mir als mich vor Wien, was aber, anders betrachtet, auch nur für ihre unveränderliche Zuneigung zu dieser Stadt spricht. „Aber das war doch gar nicht so“, tönt meine Mutter aus der ersten Ehrenreihe auf diversen literarischen Veranstaltungen. „Das war ganz anders, nämlich so …“ Und schon holt sie episch aus, während ich, auf der Bühne festgenagelt, im Fegefeuer brate, gequält von der Möglichkeit, eine ebenso epische Familienkrise bei öffentlichem Widerspruch auszulösen, aber dichterische Freiheit doch noch verteidigt zu haben. „Familienbande“, knurre ich dann in mich hinein, „diese Familienbande“. Das Knurren aber gleicht dem Knurren eines Hundes, der Widerspruch anmelden möchte, ohne seinen Menschen wirklich anzugreifen, ein leises, in sich gewandtes Knurren. Wer nun allerdings glaubt, ich hätte schon das Ende der Wiener jüdischen Mutter-Saga als deren alleiniges Opfer erreicht, der frage im Sinne der gerade eben strapazierten Familienbande vielleicht einfach mal mein Kind nach dessen Meinung. Ich hielt zwar eingangs fest, dass hier keine dunklen psychoanalytischen Bereiche aufgemacht werden sollten. Darum breite man hier den Mantel der schweigenden Gnade aus, obwohl ich fürchte, dass auch dem Kind vielerlei Originelles einfallen würde, was mich als jüdische Mutter durchaus unter Beschuss bringen könnte. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. Und: Schon gut, ich lasse jetzt mal los.

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