„Gefangen in einem kulturellen und emotionalen Zwischenraum“

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Mit dem soeben erschienenen Roman Schimons Schweigen legt Vladimir Vertlib ein weiteres empfindsames und humorvolles Werk vor. Über Meschpoche in Israel, Religion und Identitäten sprach er mit Marta S. Halpert.

WINA: Ihr soeben erschienener Roman Schimons Schweigen ist eine berührende und aufwühlende Aneinanderreihung von autobiografisch-existenziellen Erlebnissen, gespickt mit viel sarkastischem Humor. Sie sind erst 46 Jahre alt, ist das nicht zu früh für eine Retrospektive?

Vladimir Vertlib: Nun, mit 45 Jahren (46 werde ich erst am 2. Juli) bin ich natürlich kein junger Bursche mehr und blicke schon auf einige Jahrzehnte des Erwachsenenlebens zurück. Aber Spaß beiseite: Das Alter des Autors spielt für einen Roman wie diesen keine wesentliche Rolle. Das Buch ist – trotz einiger autobiografischer Elemente – keine Autobiografie und schon gar keine Retrospektive auf ein ganzes Leben. Letzteres würde ja bedeuten, dass alles schon abgeschlossen ist und nun rekapituliert wird – was ich nicht hoffe. Für den Rückblick auf bestimmte Erlebnisse und für deren künstlerische, kreative Bearbeitung kommt – unabhängig vom Alter – irgendwann der richtige Zeitpunkt. Es ist wichtig, diesen zu erkennen. Meine Bücher Abschiebung und Zwischenstationen hatten ebenfalls einen persönlichen Hintergrund, und damals war ich noch um einiges jünger als heute.

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WINA: Der Begriff „Retrospektive“ gefällt Ihnen in Zusammenhang mit Schimons Schweigen nicht. Wie würden Sie persönlich Ihren neuen Roman einordnen?

VV: Die Kategorisierung ist für den Leser einerlei. Wichtig ist nur, dass er aus dem Roman etwas herausholen kann, dass er sich in meinem Text spiegelt und dort wiederfindet. Dennoch würde ich sagen, Schimons Schweigen ist sowohl eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft als auch die fortgesetzte Frage nach der Identität.

WINA: Sie kommen nach vielen Jahren wieder nach Israel, diesmal als Tourist, und versuchen, sowohl die Gerüche und Bilder Ihrer kindlichen Tage aufzuspüren als auch die Verwandtschaft neu unter die Lupe zu nehmen. Da schwingt so viel Liebe und Verständnis für die aufreibenden Lebensumstände mit. Haben Sie Israel in Ihrer Lebensplanung schon ganz abgeschrieben?

VV: Nein, warum sollte ich Israel in meiner Lebensplanung schon abgeschrieben haben? Wäre dies der Fall, dann hätte ich Schimons Schweigen wohl nicht oder ganz anders geschrieben. Ich habe eine starke emotionelle Bindung an Israel, nicht zuletzt, weil viele Verwandte von mir dort leben. Ich werde dieses Land in meinem Leben immer wieder besuchen und bereisen. Allerdings möchte ich bestimmt keine Alija machen. Ich bin Österreicher und deutschsprachiger Autor und brauche eine deutschsprachige Umgebung.

WINA: Gleichzeitig flechten Sie Ihre Erfahrungen als jüdisch-russischer Emigrantenstudent im Wien der Waldheim-Ära ein: all die kleinen und großen Verletzungen, die gedankenlose Willkür und Gefühllosigkeit der Mehrheitsgesellschaft. Es hat sich viel bei Ihnen aufgestaut, und das musste jetzt endlich heraus?

VV: Ja, wahrscheinlich. Letztlich dient der historische und gesellschaftliche Hintergrund aber auch nur als Folie, um Allgemeingültiges, Menschliches, das „Drama des Daseins“ darzustellen, also genau das, was Literatur primär leisten kann und sollte.

WINA: Sie haben ja schon in Ihren ersten beiden Büchern Abschiebung (1995) und Zwischenstationen (1999) die teils schmerzlichen, teils grotesken Erkenntnisse aus Ihrer persönlichen Odyssee verarbeitet. Sehen Sie Schimons Schweigen als Vollendung einer Trilogie?

VV: Ja, so ist es. Man braucht aber die ersten beiden Bücher nicht gelesen zu haben, um Schimons Schweigen zu verstehen.

WINA: Die jüdische Identität haben Sie in Letzter Wunsch (2003) thematisiert. Jetzt sagt der Protagonist Ihres Romans Schimons Schweigen „[…] und auch ich werde in diesem Land ankommen“. Bei der Lektüre spürt man, dass Sie persönlich noch immer nicht sesshaft sind. Auch in Salzburg, wo Sie leben, in Österreich; sind Sie nicht wirklich angekommen?

VV: Ja und nein. Ich lebe schon sehr lange in Österreich und bin hier inzwischen zu Hause. Aber wie viele andere Immigranten auch, bin ich innerlich in einem kulturellen und emotionalen Zwischenraum gefangen und letztlich immer noch bzw. weiterhin unterwegs. Das gilt aber – auf andere Art – grundsätzlich für sehr viele Menschen, ganz unabhängig davon, ob sie einen so genannten „Migrationshintergrund“ haben oder nicht.

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WINA: Sie haben sich in diversen Interviews, auch im ORF Radio, zu Fragen der jüdischen Religion abweisend gezeigt und sich manchmal sogar lustig gemacht. In Schimons Schweigen heißt es an einer Stelle: „Insofern haben Gott und ich etwas gemeinsam: Wir haben beide eine etwas unklare Identität.“ Dennoch werden Ihre einfühlsame Erzählkunst und Ihre scharfzüngige Selbstkritik manchmal als typisch jüdisch und nur ein wenig als russisch beschrieben. Wie würden Sie selbst Ihr Jüdisch-Sein definieren?

VV: Ich habe mich nicht zu Fragen der jüdischen Religion abweisend gezeigt. Ich habe mich über dogmatische bzw. fundamentalistische Auslegungen der Religion (und nicht nur der jüdischen) lustig gemacht. Ich selbst bin kein „religiöser Jude“. Ich esse gerne Schinken-Käse-Toast, fahre am Samstag mit dem Bus und gehe kaum jemals in die Synagoge. Ich bin aber keineswegs ein Agnostiker oder gar ein Atheist. Aber meine Beziehung zu Gott ist sehr persönlich; sie geht nur Gott und mich etwas an. Für mich sind religiöse Gebote, Verbote, Feiertage und Rituale in erster Linie Zeichen und Symbole, die jede Generation zeitgemäß interpretieren und bewerten sollte. Viel wesentlicher ist, wofür diese Rituale stehen, also das Wesen, die Quintessenz einer Religion. Allein betrachtet und außerhalb des erwähnten symbolischen (und vor allem emotionellen/persönlichen) Kontextes sind die entsprechenden Rituale, Gebote und Verbote bedeutungslos und auswechselbar. Das gilt für das Judentum wie auch für andere Religionen gleichermaßen. Das Judentum sehe ich primär als Kultur- und Schicksalsgemeinschaft. So definiere ich auch selbst meine eigene Zugehörigkeit dazu. Ob und inwieweit aus meinen Texten etwas „typisch Jüdisches“ (ein furchtbarer Ausdruck, denn was ist schon typisch jüdisch?) oder „Russisches“ herausgelesen wird, überlasse ich gerne KritikerInnen und GermanistInnen.

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WINA: Da hätte ich noch eine provokante Frage als weibliche Leserin: Warum verraten Sie uns nicht den Namen „ihrer Frau“? Denn so wird sie im neuen Roman tituliert: nur mit dem besitzanzeigenden Fürwort.

VV: Die Frage ist nicht wirklich provokant und auch leicht zu beantworten. Wie in der Erzählung Abschiebung und im Roman Zwischenstationen bleiben auch in Schimons Schweigen der Ich-Erzähler und seine Eltern namenlos. Der Protagonist und seine engste Familie sind für mich exemplarische Figuren. Deshalb haben sie keine Namen. Demzufolge gilt dies auch für die Frau des Protagonisten. Es handelt sich also um ein Stilmittel und hat nichts mit dem Verhältnis „Frau/Mann“ zu tun. Wenn im Roman ein Kind des Protagonisten vorgekommen wäre, hätte es ebenfalls „nur“ den Namen „meine Tochter“ oder „mein Sohn“ gehabt. Wie gesagt, hatte ich schon früher für meine Bücher diese intuitive Entscheidung getroffen und bin daher auch im Sinne der Trilogie dieser Erzählform in Schimons Schweigen treu geblieben.

Zur Person

Vladimir Vertlib, 1966 in Leningrad (heute St. Petersburg), UdSSR, geboren, lebt seit 1981 nach einigen Zwischenstationen in Östereich und ist seit1993 freiberuflicher Schriftsteller und Journalist in Salzburg. Seither erschienen u. a. 1995 „Abschiebung“ (Erzählung), 2003 „Letzter Wunsch“ (Roman), 2006 „Mein erster Mörder. Lebensgeschichten“ und „Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur“, 2009 „Am Morgen des zwölften Tages“ (Roman). Zahlreiche Preise, darunter 2002 Anton-Wildgans-Preis. 2006 Chamisso-Poetik-dozentur in Dresden.

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