364 Stimmen und ein „Echo“

Evelyn Adunka verführt mit ihrem Band Meine jüdischen Autobiographien zum Lesen und blickt in einer Jubiläumsnummer zurück auf 70 Jahre Jüdisches Echo.

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Debatten und Träume. 70 Jahre Das Jüdische Echo. Jüdisches Leben in Österreich, Europa und Israel. Vol. 69/70, € 19,90

„Es gab gottgläubige Ostjuden und goethegläubige Westjuden. […] Ein Jude konnte damals alles sein, sogar Antisemit und Faschist.“ So Georg Stefan Troller vor 30 Jahren in seiner „Selbstbeschreibung“. Am 10. Dezember feiert der Wiener Autor und Journalist seinen 100. Geburtstag. Ad mea we esrim, lieber Troller.

In a nutshell. Was ein Jude alles sein konnte, was Juden alles waren, erlebten, erlitten, also das fantastisch breite Spektrum jüdischer Daseinserfahrungen zwischen Gottesglauben und Goethe, wobei eher Schiller der klassische Hausheilige der Westjuden war, das lässt sich am Besten in Selbstzeugnissen Betroffener nachlesen. 364 solcher autobiografischer Zeugnisse jüdischer Autor:innen der letzten beiden Jahrhunderte aus 20 Ländern, ganze Lebensläufe in a nutshell, hat die Publizistin und Historikerin Evelyn Adunka nun in einem beeindruckenden Band versammelt. Neben Beruflichem sollte ebenso Privates und vor allem eine Auseinandersetzung mit dem wie auch immer erlebten Judentum in ihnen zur Sprache kommen, begründet sie ihre „subjektive Auswahl“. Dass es sich aber um kein wissenschaftliches Buch handle, wie Adunka in ihrem Vorwort meint, ist angesichts des Respekt gebietenden Rechercheaufwands natürlich eine gelinde Untertreibung. Adunka schöpft in jeder Hinsicht aus dem Vollen. Aus ihrer eigenen Jahrzehnte langen einschlägigen Arbeit, die ihr auch Gelegenheit zu etlichen persönlichen Begegnungen gab, und aus der Fülle des Materials. Von alten „Bekannten“, Autoren wie Elias Canetti oder Amos Oz, Politiker:innen wie die als Simone Jacob geborene Simone Weil oder Golda Meir, von Künstler:innen wie Hugo Wiener oder Hilde Zadek erfährt man hier auch so manch Neues, aber gerade in den Lebenserinnerungen weniger prominenter Personen spiegelt sich in ungefilterter Direktheit der sogenannte Zeitgeist und dessen Veränderung im Laufe der Geschichte, besonders auch der Wandel im Zugang zur sogenannten „Jüdischkeit“. Aufklärung, Emanzipation, Assimilation einerseits, Tradition, das Festhalten an der Religion bzw. die Rückkehr zum Glauben der Väter andererseits, lassen sich in den treffend gewählten, erhellenden Zitaten, die den einzelnen autobiografischen Abrissen vorangestellt sind, ablesen. Bei vielen wird man mehr wissen wollen, die Lust zum Weiterlesen kommt in dieser „Leseverführung“ jedenfalls auf.

 

„Neunundneunzig Prozent Kant und Goethe
und nur ein Prozent Altes
Testament.“
Franz Oppenheimer

 

Anziehung und Abstoßung. Die Taufe ihrer Kinder war für die 1833 in Weißrussland geborenen Pessele Epstein nicht nur der „schwerste Schlag“ ihres Lebens, sondern auch ein „Nationalunglück. Ich betrauerte nicht nur als Mutter, sondern auch als Jüdin das ganze jüdische Volk, das so viele edle Kräfte verlor.“ Wie viel jüdische Geschichte wird allein in diesem kurzen Zitat aus den Memoiren einer Großmutter offenbar. Symbolische, symptomatische Details, wie ein Christbaum oder der Schinken in jüdischen Haushalten werden als Gradmesser der Anpassung an die nichtjüdische Umgebung und letztlich oft als

Evelyn Adunka: Meine jüdischen Autobiographien. Eine Leseverführung und subjektive Auswahl. Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, 616 S., € 30

vergebliches Werben um Anerkennung in dieser bedeutsam. Kindheitserinnerungen an die starken jüdischen Väter, die noch beteten, an Festtage bei den frommen Großmüttern tauchen immer wieder bewegend auf. Anziehung und Abstoßung durchziehen leitmotivisch und tragisch die jüdische Existenz. Deutscher als deutsch waren und wollten sie sein, „neunundneunzig Prozent Kant und Goethe und nur ein Prozent Altes Testament“ und da nur die „Lutherbibel“ (Franz Oppenheimer) und natürlich kaisertreuer und Wienerischer als alle anderen. In den jüdischen Ecken der Monarchie strahlte Wien als Sehnsuchtsort weit heller als Jerusalem, das erst mit dem aufkommenden Zionismus, der vielfach durchaus ambivalent betrachtet wurde, überhaupt in den Fokus geriet. Mit ihm wird auch die Beziehung zum jüdischen Staat zunehmend Thema der Reflexionen. Leben und Überleben im Nationalsozialismus, Emigration, Exil und die Shoah dominieren in einer großen Bandbreite die traumatischen Erinnerungen der Überlebenden und vielfach noch die Nachgeborenen, wie Gila Lustiger, mit Jahrgang 1963 die Jüngste des Bandes, schreibt: „[…] jeder Nachgeborene glaubt, er müsste das Erbe der Geretteten und Ermordeten antreten, in dem er selbst den dümmsten Alltag meistert.“


Highlights aus sieben Jahrzehnten

Eine „Art gedruckter Salon, wo die
Besten des österreichischen Geisteslebens […] sich einfinden sollen“.
Leon Zelman

Leon Zelman (1928–2007) ist einer der Stimmen in Adunkas Auswahl. Nach Auschwitz und anderen Lagern wurde er 1944 in Ebensee befreit. „Es gab keine Zukunft. Es gab keine Hoffnung.“ Doch Leon gab nicht auf, studierte in Wien Publizistik und gründete 1951 mit einigen „halbverhungerten Studenten“ die Kulturzeitschrift Das Jüdische Echo. Zum 70. Geburtstag der jährlich erscheinenden Zeitschrift gestaltete Evelyn Adunka das Jubiläumsheft. Bereits zum 50er hatte sie auf Einladung Zelmans eine Geschichte des Echo verfasst. Wiederum aus dem Vollen schöpfend wählt sie nun im Rückblick gleichsam in einer Blütenlese die Highlights aus diesen Jahrzehnten, gruppiert nach Kernthemen wie Österreichisches Judentum, Exil, jüdische Welt bis Israel und dazu jeweils die repräsentativsten Beiträge passend zum Motto „Debatten und Träume“ aus. Als eine „Art gedruckten Salon, wo die Besten des österreichischen Geisteslebens neben international renommierten Denkern sich einfinden sollen“, verstand Zelman sein Echo. Demgemäß vereint die glanzvolle Jubelnummer nunmehr viele dieser Besten zu den jeweiligen Schwerpunkten. Von Hilde Spiel und Eli Wiesel bis Doron Rabinovici, Vladimir Vertlib, Helene Maimann und vielen anderen. Insgesamt ein intellektuelles Panorama jüdisch-österreichischer Nachkriegsgeschichte in Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft und Politik bis hin zur unmittelbaren Gegenwart.
Abschließend auch dazu der Wunsch: Ad mea we esrim! Bis 120!

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