„War doch nur Spaß“

Jeder vierte Deutsche denkt antisemitisch, wie eine Studie des World Jewish Congress (WJC) im Herbst 2019 ergab. Für Jüdinnen und Juden in Deutschland bedeutet das, im Alltag vor allem immer wieder mit latentem und unterschwelligem Antisemitismus konfrontiert zu werden. Nun hat sich FreeTech – Academy of Journalism and Technology, ein Ausbildungsangebot der Axel-Springer-Verlagsgruppe, des Themas angenommen und ein Digitalangebot entwickelt, das Bewusstsein schaffen soll.

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Kurze Videoclips über unangenehme Erlebnisse, die so manchem und so mancher bekannt vorkommen könnten. © jedervierte.com

In kurzen Videoclips erzählen Juden und Jüdinnen auf der Seite jedervierte.com von unangenehmen Erlebnissen, die so manchem und so mancher bekannt vorkommen könnten. Da ist etwa die Schülerin Emilia, die als 16-Jährige den Freund eines Freundes kennenlernt, der, als er erfährt, dass sie Jüdin ist, meint, Hitler-Witze erzählen zu müssen und das Ganze einleitet mit: „Da muss ich dich jetzt mal fragen, wenn du wirklich Jüdin bist, dann darf ich ja eigentlich keine Hitler-Witze machen.“ Und legt dann dennoch los, erzählt von einem Juden in New York, der ein Hitler-Bild an der Wand hängen hat und darauf angesprochen meint: „Das ist mein Mittel gegen Heimweh.“ Es sollte nicht der eine Witz dieser Art bleiben. Und Emilia sollte sich auch von den anderen bei dieser Begebenheit ziemlich alleingelassen fühlen.

 

Erzählt hat sie diese Begebenheit Journalismusschülern, die nun im Rahmen ihrer Ausbildung genau solchen Geschichten auf der Spur sind. Die Erlebnisse werden dann zu Szenen verdichtet, ohne sie inhaltlich zu verändern, und von Schauspielern dargestellt. „Die bewusst reduzierte Szenerie, in der wir die Erlebnisse von jüdischen Bürgern nacherzählen, wirkt wie ein Vergrößerungsglas, unter dem die antisemitischen Äußerungen ihre grauenvolle Wirkung entfalten“, sagt FreeTech-Studienleiterin Kristin Schulze.

„[…] sollen wir uns an die Schuld des Holocaust erinnern müssen? Uns wird diese Last aufgezwungen, und wir müssen bis heute dafür bezahlen.“
Zitat einer Lehrerin

Im Anschluss tritt die Person, der das Dargestellte passiert ist, vor die Kamera und beantwortet Fragen; gestaltet ist dieser Teil interaktiv. Es stehen verschiedene Fragen zur Auswahl, die man dann anklicken kann, und es beginnt erneut ein kurzer Clip mit der Antwort. Emilia sagt etwa nun, vier Jahre später nach dem Abend, an dem sie Hitler-Witze aufgezwungen bekam, dass ihr damals gar nicht bewusst gewesen sei, dass es sich um Antisemitismus gehandelt habe. Das war ja nur Spaß, habe man versucht, ihr zu vermitteln. Heute sage sie jedenfalls nicht gleich, dass sie Jüdin sei.
Heftig ist auch eine Geschichtsstunde, die Sonja an einer katholischen Privatschule erlebt hat. Es ging um den Zweiten Weltkrieg, und die Geschichtsprofessorin meinte dann: „So, wir haben jetzt noch ein anderes leidiges Thema durchzunehmen den Holocaust.“ Sie habe der Klasse bereits einen Text zum Durchlesen gegeben, sagt sie weiter, „das müsste reichen“, das Ganze sei ja schon eine ganze Weile her, „aber die einflussreichen Juden lassen uns das nicht vergessen.“ Und die Lehrerin legte noch nach: Da gebe es ein Zitat von Hitler, erzählte sie den Schülern. Dieser habe gesagt, die Deutschen würden niemals frei sein. Und das stimme auch, denn „wir werden niemals frei von seinen Taten sein.“ 1980 sei eine Debatte geführt worden, ob Lehrer und Lehrerinnen den Holocaust unterrichten müssten – „sollen wir uns an die Schuld des Holocaust erinnern müssen?“, so die Lehrerin weiter. „Uns wird diese Last aufgezwungen, und wir müssen bis heute dafür bezahlen.“
Die Schülerin hat nach diesem Vorfall die Schule verlassen und besucht heute eine andere Lehranstalt. Gemeinsam mit ihren Eltern ging sie nach dieser Geschichtsstunde zur Schulleitung und erwartete, dass die Lehrerin nicht weiter unterrichten dürfte. Das Gegenteil war der Fall. Sie unterrichtet weiter, aber Sonja wechselte eben die Schule. „In dem Umfeld wollte ich nicht bleiben. Ich wollte zeigen, dass das nicht ok ist.“ Verletzt habe sie auch die Reaktion der Mitschüler und Mitschülerinnen. Sie selbst zeigte damals auf und meinte, es könne doch nicht sein, dass schon wieder vom Vergessen geredet werde. Damit blieb sie aber allein. „Die Schüler wussten alle, dass ich jüdisch bin. Sie haben mitgekriegt, dass ich verletzt bin. Im Endeffekt haben sie aber entschieden, nichts zu sagen oder gegen mich zu argumentieren. Da habe ich schon sehr viel Vertrauen verloren.“
Ganz scheint dieses Vertrauen noch nicht wieder da: In dem Interview zeigt die Schülerin ihr Gesicht nicht. Sie habe nach diesem Vorfall eine Identitätskrise durchlitten, sagt sie heute. Obwohl sie in Deutschland geboren sei, werde sie offenbar nicht als Deutsche akzeptiert. „Viele jüdische Camps haben mir geholfen, mich stärker und stolz zu fühlen.“ Das Wichtigste sei aber, in solchen Situationen immer etwas zu sagen.
Mehr solcher Geschichten finden sich auf jedervierte.com. Jüdinnen und Juden werden sich in der einen oder anderen Szene wiedererkennen oder sich an selbst Erlebtes erinnern. Dadurch, dass die Betroffenen allerdings zusätzlich darüber sprechen, was das Erlebte in ihnen ausgelöst hat, tragen sie dazu bei, bewusstzumachen, welche Grenzen nicht überschritten werden sollten und wo Antisemitismus beginnt
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