Dem Leben auf der Spur

Vor 70 Jahren starb der große österreichische Romancier Hermann Broch in den USA. Er war als wohlhabender jüdischer Großbürger aufgewachsen, arbeitete erst als Industrieller und ließ dann alles hinter sich, um sich der Komplexität der menschlichen Natur als Schriftsteller anzunähern.

1900
Hermann Broch wurde 1886 in Wien geboren. „Eigentlich würde ich mich nicht wundern, wenn jetzt eine Periode käme, in der die Menschen es überhaupt bloß darauf anlegen würden, nur zu vergessen.“ © picturedesk.com

Sein literarisches Credo formulierte Hermann Broch, wie man es klarer kaum ausdrücken könnte. Zur Romantrilogie Die Schlafwandler schrieb er: „Dieser Roman hat zur Voraussetzung, dass die Literatur mit jenen menschlichen Problemen sich zu befassen hat, die einesteils von der Wissenschaft ausgeschieden werden, weil sie einer rationalen Behandlung überhaupt nicht zugänglich sind und nur mehr in einem absterbenden philosophischen Feuilletonismus ein Scheinleben führen; anderseits mit jenen Problemen, deren Erfassung die Wissenschaft in ihrem langsameren, exakteren Fortschritt noch nicht erreicht hat.“
In dieser halbdunklen, aber üppig ausgemalten Zwischenwelt agieren seine Figuren, erratisch und brutal, voller Einsamkeit und Gier, mit sinnlicher Fleischeslust und zarten – oft vergeblichen – Hoffnungen. Ganz leicht macht Broch es dabei den Leserinnen und Lesern nicht, denn er verschneidet das bunte Menschenpanorama immer wieder mit komplizierten philosophischen Erläuterungen. Auf Handeln, Betrügen und Töten folgen lange Passagen kalter, sezierender Erläuterungen.
„Ich meine, dass das Lebensgefühl, das man hat, immer etwa ein halbes oder auch ein ganzes Jahrhundert dem wirklichen Leben nachhinkt. Das Gefühl ist eigentlich immer weniger human als das Leben, in dem man steht.“ So relativ beschaulich philosophierend geht es noch im ersten Teil der Romantrilogie Die Schlafwandler zu, in der Broch unterschiedliche Phasen des Untergangs der – wilhelminischen – Monarchie beschreibt. In Teil drei, am Ende des Ersten Weltkriegs, klingt das schon ganz anders: „Möglich, dass hier eine Generation von Verbrechern heranwächst.“ Und der armamputierte Leutnant antwortet auf die Frage, wie er sich fühle, mit müdem Zynismus: „Wie eine neugeborene Maschine … eine Maschine in einer ausgezeichneten Periode … wenn die Zigaretten besser wären, wär’s noch ausgezeichneter.“

Ich meine, dass das Lebensgefühl, das man hat, immer etwa ein halbes oder auch ein ganzes Jahrhundert dem wirklichen Leben nachhinkt.
aus Die Schlafwandler

Broch kannte solche blutigen Fälle aus erster Hand. Er hatte zwar eine militärische Grundausbildung – erst in der Kavallerie, dann in der Artillerie – absolviert, musste aber aus gesundheitlichen Gründen nicht an die Front, sondern leitete ein Heeresspital in den Hallen der familieneigenen Spinnerei im niederösterreichischen Teesdorf. Und er hatte auch sonst bereits einiges an Erfahrung durch ausführliche berufliche Reisen machen können.
Sein Vater, Josef Broch, stammte aus einer armen jüdischen Familie in Mähren und hatte sich in Wien hinaufgearbeitet, es als Textilgroßhändler zu erheblichem Wohlstand gebracht, zusätzlich reich geheiratet. Er wechselte dann noch vom Handel in die Industrie, kaufte sich mit Partnern in eine Spinnerei ein.
Hermann wurde in großbürgerliche Verhältnisse geboren und war als Nachfolger und künftiger Industrieller vorgesehen, seine Ausbildung daraufhin optimiert. Erst absolvierte er in Wien die Höhere Lehr- und Versuchsanstalt für Textilindustrie, dann im elsässischen Mühlhausen die obere Spinn- und Webeschule. Das qualifizierte ihn zum Eintritt in die väterliche Firma als Assistenzdirektor. Für weitere Praxiserfahrungen schickte ihn der Vater ins Ausland, unter anderen an die einschlägigen Börsen in den USA in New York und Chicago und in die Baumwollplantagen des amerikanischen Südens.
1909 heiratet Broch die katholische Zuckerfabrikantentochter Franziska von Rothermann, zuvor hatte er sich „stehend“ taufen lassen. Er investiert Geld der Schwiegerfamilie in die Fabrik und modernisiert diese damit erheblich. Aber weder Management noch Ehe können ihn langfristig wirklich erfüllen. Er beginnt mit literarischen Versuchen, bewegt sich in den intellektuellen und künstlerischen Kreisen der Wiener Kaffeehäuser, lernt kreative Menschen wie Robert Musil, Alfred Polgar, Egon Friedell oder Egon Schiele kennen.

Recherchen und Lokalkolorit. Nach dem Ersten Krieg wird er in den Betriebs- und Arbeitsrat der Fabrik gewählt, später vermittelt er auch am Gewerbegericht in Wiener Neustadt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. 1923 trennt er sich von seiner Frau, bald darauf beginnt er ein Studium mit den Schwerpunkten Philosophie und Mathematik. 1927, noch vor dem Börsenkrach in den USA und der folgenden Weltwirtschaftskrise, verkauft er die Fabrik, um sich ganz der Literatur zu widmen.
Die Schlafwandler erscheint – nach Absagen durch mehrere Verlage – schließlich 1930 bis 1932 und macht ihn schlagartig international bekannt. Laut seinem Biografen, dem deutsch-amerikanischen Germanisten Paul Michael Lützeler, erscheinen dazu etwa hundert Besprechungen, „was für einen unbekannten Autor erstaunlich viel war“. Kommerziell ist das Buch kein großer Erfolg. Doch nun schreibt Broch mehrere Bücher nacheinander, etwa den Roman Die unbekannte Größe über einen Mathematiker und dessen Scheitern, mit seiner Wissenschaft die Welt zu erklären. Es folgt Die Verzauberung, ein Roman, in dem er an einem alpinen Dorf modellhaft zeigt, wie ein – faschistischer – politischer Verführer mittels aller möglicher Strategien und Tricks die Bevölkerung manipuliert, hinter sich versammelt und gegeneinander aufbringt. Für Recherchen und Lokalkolorit übersiedelt Broch einmal in das steirische Salzkammergut, einmal in ein Tiroler Dorf. Dafür dürften freilich auch ökonomische Gründe eine Rolle gespielt haben, denn mit dem einstigen bourgeoisen Wohlstand und den Schränken voller teurer Anzüge war es inzwischen vorbei, er musste sparen.
1938 wussten die Nationalsozialisten auch schnell, wo sie ihn finden konnten, Taufe hin oder her. In Altaussee verhafteten sie ihn und sperrten ihn ein. Wegen Darmblutungen kam er bald wieder frei, und über Interventionen von Thomas Mann und Albert Einstein konnte er erst nach England und Schottland fliehen, dann mit Visum in die USA emigrieren. Seine Mutter durfte er nicht mitnehmen, sie wurde im Dezember 1942 in Theresienstadt ermordet.
In den USA erhält Broch mehrere Stipendien, das erste davon von der Guggenheim Foundation. Er kann den bereits begonnen Roman Der Tod des Vergil fertigstellen, später folgt noch das Buch Die Schuldlosen. Er schreibt auch politisch-philosophische Texte und unterrichtet deutsche Literatur in Yale. Broch stirbt Ende Mai 1951 an einem Herzinfarkt.
Wie scharf seine politisch-psychologische Analyse sein konnte, zeigte sich schon am Frühwerk Die Schlafwandler. Da war – einige Jahre vor Hitlers Machtergreifung – von der „Sehnsucht nach dem Führer“ die Rede, „der leicht und milde ihn bei der Hand nimmt, ordnend und den Weg weisend […], der das Haus neu erbauen wird, damit aus Totem wieder das Lebendige werde“.
Und trotz Erscheinungsdatum 1932 wird im Roman schon die „Stunde Null“ des Jahres 1945 plastisch vorweggenommen, diesmal nach dem totalen Zusammenbruch und den Folgen des Führerwahns: „Eigentlich würde ich mich nicht wundern, wenn jetzt eine Periode käme, in der die Menschen es überhaupt bloß darauf anlegen würden, nur zu vergessen: Schlafen, Essen, Schlafen, Essen … so wie die Leute hier … Schlafen, Essen, Karten spielen…“

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