„Der Joint arbeitet wie eine Ziehharmonika“

Eine unentbehrliche jüdische US-Hilfsorganisation schließt nach 100 Jahren ihre Pforten in Wien – vorläufig.

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Verlegung von 1.000 jüdischen Flüchtlingen aus dem Salzburger Displaced-Persons- Lager in neue Quartiere in der Nähe von München unterstützt durch das JDC.© Science Source / PhotoResearchers / picturedesk.com

Auf die eine oder andere Art ist fast für jeden in der jüdischen Community der Name Joint ein Begriff“, sagt Wolfgang Weninger. Dass man ab Februar 2020 in Österreich nur mehr in der Vergangenheitsform über das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), kurz: Joint, wird sprechen können, stimmt den Leiter des Österreich-Büros nachdenklich: „Damit geht die 100-jährige Geschichte dieser jüdisch-amerikanischen Flüchtlingshilfsorganisation in Wien vorläufig zu Ende. Aber man vergleicht den Joint mit einer Ziehharmonika: Wenn es Arbeit gibt, dehnt er sich wieder aus.“
Warum wird das Büro des JDC jetzt geschlossen? Dafür gibt es mehrere hoch politische Ursachen, und die erläutert Amir Shaviv, der Geschäftsführer des Transmigrationsprogramms in New York: „In den letzten Jahren fokussierte sich die Arbeit in Wien auf die Betreuung der jüdischen Asylanten aus dem Iran. Während sie auf ihre endgültigen Ausreisepapiere in die USA warteten, unterstützte sie das JDC in allen humanitären und religiösen Belangen, und die HIAS*, als offizielle US-Agency, erledigte den bürokratischen Aufwand.“ Doch im Jänner 2017 erteilte Präsident Trump den Erlass, die Einwanderung aus sieben muslimischen Staaten, darunter auch dem Iran, zu stoppen. Daraufhin stellte auch die österreichische Regierung die Erteilung von Transitvisa aus Teheran nach Wien ein.
„Infolge dessen konnte das Wiener Joint-Büro seine ursächlichste Mission nicht mehr erfüllen, vor allem, weil seit zwei Jahren kein einziger jüdischer Flüchtling aus dem Iran hier ankam“, erläutert Shaviv. „Leider gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass sich die amerikanische Politik in nächster Zukunft ändert.“ Ab den 1980er-Jahren bis 2017 waren rund zehntausend iranische Juden auf der Durchreise in Wien auf ihrem Weg in die USA. Signifikant abgenommen hatte der Flüchtlingsstrom schon ab 2010, als pro Jahr nur mehr zirka einhundert Personen hier durchreisten.
Hat der große Freund Israels auch die Auswanderung für Juden in seinem Erlass inkludiert? „Ja“, sagt Wolfgang Weninger, „aber mit dem Lautenberg-Amendment, einer Gesetzesnovelle aus dem Jahr 1990, konnten wir da ein legales Schlupfloch finden.“ Diese Abänderung wurde in den 1990-Jahren eigentlich zur Erleichterung der Einwanderung von russischen Juden gemacht und besagte, dass die religiösen Minderheiten nicht Verfolgung nachweisen müssten, sondern, dass es auch genüge, wenn sie „Furcht vor Verfolgung“ angaben. „Das bezog sich dann natürlich ebenso auf verfolgte Christen und Bahai aus dem Iran“, erklärt der Büroleiter.

»In den letzten Jahren fokussierte sich die Arbeit
in Wien auf die Betreuung der jüdischen
Asylanten aus dem Iran.«
Amir Shaviv

Das JDC war ursprünglich 1914 gegründet worden, um die jüdischen Opfer des Ersten Weltkriegs zu unterstützen. In der Zwischenkriegszeit waren zunächst die verarmten jüdischen Gemeinden in der Sowjetunion und in Osteuropa im Fokus der jüdisch-amerikanisch Wohlfahrt. Ab 1933 konzentrierte sich JDC auf die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten Ost- und Westeuropas: etwa durch Spenden für Kranken- und Waisenhäuser, für Nahrungsmittel und zum Teil auch für den bewaffneten jüdischen Widerstand. Außerdem half die NGO mit eigenen Büros in zahlreichen europäischen Ländern bei der Organisation der Emigration und übernahm auch Reise- und Visakosten.
Dieser Teil der Arbeit nahm nach den Novemberpogromen 1938 stark zu, bei Kriegsbeginn erhöhte sich die Zahl der Flüchtlinge noch einmal. Der US-Rabbiner Joseph J. Schwartz übernahm 1940 in Paris das Amt des europäischen Direktors des JDC. Seine Bemühungen um Hilfeleistung gingen mitunter über die Grenze der Legalität hinaus – so zahlte das Komitee auch für falsche Papiere. Schwartz sorgte nicht nur dafür, dass jüdische Flüchtlinge, die Lissabon mit gültigen Reisepapieren erreichten, von dort aus mit dem Schiff weiterreisen konnten. Er unterstützte auch Insassen französischer Internierungslager sowie französische Krankenhäuser, Waisenheime und Suppenküchen. Auch in das Ghetto Theresienstadt, nach Polen und in andere von den Deutschen besetzte Gebiete wurden Lebensmittelpakete und Geld geschickt.

15 Millionen Dollar hatte das
JDC mit der Kampagne SHARE bis zum Ende des Krieges lukriert, um damit jüdisches Leben in Europa zu retten. Plakat: Johnstone Burke Studios. Lithographie. © United States Information Servic / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

Ab Juni 1940, nach der deutschen Besetzung von Paris, wurden die Hilfsaktionen von Lissabon aus koordiniert: Die portugiesische Hauptstadt wurde zu einer der zentralen Transitstationen auf dem Weg nach Übersee. Diese Aktivitäten wurden durch den Kriegseintritt der USA erschwert, da das JDC ab diesem Zeitpunkt keine Büros in feindlichen Ländern mehr unterhalten durfte. Mit Hilfe des in der Schweiz ansässigen JDC-Mitarbeiters Saly Mayer gelang es jedoch, Finanzhilfen weiterhin in Osteuropa zu verteilen und damit zahlreiche lebensnotwendige Mittel zur Verfügung zu stellen.
Nach dem Krieg war das JDC die wichtigste jüdische Hilfsorganisation für Überlebende der Schoah. Es betreute die Displaced Persons (DPs) in den Auffanglagern in Deutschland, Österreich, Italien und Osteuropa und finanzierte Nahrungsmittel, Kleidung und Berufsausbildung. Nach der Staatsgründung Israels im Mai 1948 organisierte das JDC auch den Transport jüdischer Auswanderer dorthin. Die Organisation beteiligte sich auch an der Claims Conference und dem daraus folgenden Claims Committee.

100 Jahre in Wien aktiv. Doch wie kommt der Leiter des Wiener Büros Wolfgang Weninger auf das 100-Jahr-Jubiläum in Wien? „Soweit ich das aus den geschichtlichen Unterlagen recherchieren konnte, kam bereits während des Ersten Weltkrieges Hilfe über die niederländische diplomatische Vertretung hierher“, so der ehemalige Student der Geschichte. „Es gab zwar kein JDC-Büro, aber Delegationen aus den USA kümmerten sich regelmäßig um jüdische Kriegsflüchtlinge. Finanzielle Hilfe ist erst ab 1919 gekommen, kolportiert wird eine Million Dollar.“ Stolz zeigt Weninger ein vergilbtes Schwarz-weiß-Foto, das er in alten Dokumenten gefunden hat: Es zeigt die Verteilung von Mazza für Pessach und anderer Lebensmittel im Jahr 1929 im Leopoldstädter Tempel, der 1938 vollkommen niedergebrannt wurde. „Es wurden Suppenküchen errichtet, wichtig war vor allem die medizinische Versorgung der Alten und der Kinder.“ Für diese Zeit sehr fortschrittlich, wurden Mikrokredite vergeben, damit Menschen wieder Fuß fassen konnten.
Bereits 1987 hat Weninger bei der amerikanischen Hilfsorganisation angedockt, um bei der Abwicklung der Ausreise von Juden aus der Sowjetunion zu helfen. „Die Emigrationswelle ist damals förmlich explodiert“, erzählt der Wiener. „In den 1970er-Jahren kamen auch viele Juden über Wien. 1979 mit dem Einmarsch der Russen in Afghanistan war dann Pause. Erst unter Präsident Gorbatschow gingen die Zahlen wieder hinauf.“ Parallel zu der russischen Auswanderung wurde ab 1979/80, nach dem Sturz des Schahs von Persien, auch ein Hilfsprogramm für jüdische Iraner eingerichtet. „Es handelte sich großteils um Familienzusammenführung, fast alle Personen hatten bereits Verwandte in den USA. Bemerkenswert war der hohe Ausbildungsgrad der Iraner“, berichtet Weninger. Zuerst übersetzte er medizinische Befunde für jene Personen, die in Spitälern versorgt werden mussten. „Bis auf ein Jahr Unterbrechung für den Zivildienst 1990 bin ich da picken geblieben“, lacht er.
Wie sah es mit der Hilfe in den Bundesländern aus? „Ich weiß nur von den Hilfsaktionen, die nach 1945 in der amerikanischen Besatzungszone in Oberösterreich und Salzburg stattfanden – und ein jüdisches DP-Lager gab es auch in der Obersteiermark.“ Im März 2019 wurde in der Grazer Kultusgemeinde eine berührende Gedenkveranstaltung für einen JDC-Helfer abgehalten: „Im November 1945 eröffnete der erst 26-jährige britische Staatsbürger Hyman Yantian ein Joint-Büro und organisierte für die DPs nicht nur Nahrungsmittel, Kleidung und Bildungsprogramme, sondern finanzierte in der Steiermark Erholungsheime für jüdische Kinder und Erwachsene sowie ein jüdisches Studentenheim in Graz.“ Auch beim Wiederaufbau der Gemeinde für die wenigen nach Graz zurückgekehrten Jüdinnen und Juden spielte der Joint eine wesentliche Rolle. „Die finanzielle Unterstützung kam immer aus den USA, aber ohne die logistische Hilfe der Israelitischen Kultusgemeinde sowie die medizinische Betreuung durch ESRA hätten wir das alles nicht schaffen können“, sind Amir Shaviv und Wolfgang Weninger überzeugt. „Wir haben immer einen Ansprechpartner in der IKG gehabt und sind mit unseren Asylanten auch zu den Feiertagen und diversen Veranstaltungen eingeladen worden.“
Auch wenn es im Wiener Joint-Office in den letzten beiden Jahren ruhig geworden ist, war die Hilfsorganisation im Jahr 2019 in 28 Ländern in Zentral- und Osteuropa aktiv, insbesondere im Aufbau des jüdischen Gemeindelebens nach dem Kommunismus. Die Republiken der ehemaligen Sowjetunion ausgenommen, hilft der Joint in Ländern wie Deutschland, Ungarn, Polen, Bulgarien, Rumänien, der Tschechischen Republik, auf dem Balkan und in den baltischen Staaten. Aber auch ganz neue und innovative Projekte fördert Joint heute: Das Mozaik Hub in Budapest zum Beispiel ist ein Inkubator für jüdische Sozialunternehmer, die dort ein Trainingsprogramm absolvieren, um eine neue Generation an Führungskräften für das Community Building vorzubereiten.
An welches menschliche Erlebnis während der Flüchtlingsbetreuung erinnert sind Wolfgang Weninger gerne zurück? „Von der iranischen Gastfreundschaft war ich immer wieder überwältigt: Egal, wie wenig sie hatten, auch damit haben sie einen überhäuft.“ Tief berührt hat ihn auch das Erlebnis mit einer jungen Iranerin, die sich länger in Wien aufhalten musste, weil sie einmal abgelehnt wurde. „Wir haben mit den Durchreisenden verschiedene Programme gemacht, Ausflüge, Museumsbesuche – und auch eine Reise zur Gedenkstätte des KZs Mauthausen. Das war wichtig, denn die Iraner wussten sehr wenig über den Holocaust.“ Die 20-Jährige bat dort einen polnischen Überlebenden um ein gemeinsames Foto, das sie auch machen durfte. Im Jahr darauf war die junge Frau bei der Befreiungsfeier im Mai wieder dabei und traf den weit über Neunzigjährigen erneut. Nach den freudigen Umarmungen fragte sie ihn dieses Mal auch über seine Jugenderlebnisse als Häftling aus.

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