Frauen bot das Exil auch neue Perspektiven

Die Arbeitsgemeinschaft „Frauen im Exil“ forscht seit 2002 im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung zu Lebensgeschichten von Frauen, die aus Österreich geflüchtet sind. Das Gros dieser Arbeit erfolgt unbezahlt. Insgesamt ist die Exilforschung unterdotiert und konnte bisher nicht an den Universitäten breit etabliert werden. WINA machte einen Blick darauf, was diese Art der Forschung leistet.

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Die Frauen-AG. Kathrin Sippel, Traude Bollauf, Primavera Driessen Gruber, Elisabeth Lebensaft (sitzend von links) und Katharina Prager, Ilse Korotin (die Historikerin und Soziologin leitet aktuell die 2002 gegründete Frauen-AG.), Irene Messinger, Ursula Stern (stehend von links). © Daniel Shaked

Susanne Bock hat sich den Traum eines Universitätsstudiums erst spät erfüllt. 1978, bereits im Ruhestand, begann sie, Sprachwissenschaft und Anglistik zu studieren. 1983 schloss sie mit dem Magisterium ab, 1993 setzte sie ein Doktorat darauf. Ihre Vita ist durchzogen von Brüchen – doch eines hat sie nie verloren: ihre Kraft. Heute lebt sie, fast 100-jährig, in einem Seniorenheim in Wien.
Geboren wurde sie 1920 als Susanne Hackl. Die jüdische Familie lebte im neunten Bezirk in eher ärmlichen Verhältnissen. Bocks Elternhaus war assimiliert. Politisch sozialisiert wurde das Mädchen bei den Roten Falken. Sie war eine gute Schülern und schaffte den Übertritt von der Hauptschule in das Gymnasium. Fast führte ihr politisches Engagement jedoch dazu, dass sie von der Schule flog: Ab Februar 1934 galten ihre politischen Aktivitäten als illegal, 1936 wurde sie verhaftet und für einige Tage inhaftiert. Es gelang jedoch, den Schulausschluss zu verhindern. Ab April 1938 musste sie – da war sie bereits in der Maturaklasse – eine jüdische Sammelklasse besuchen. Die Matura konnte sie im Juni noch ablegen, sofort danach flüchtete sie aus Wien.
In Cesenatico hatte sie im Sommer 1937 in einem Ferienheim Wolfgang Bock kennengelernt. Ihre Jugendliebe musste sie jedoch zurücklassen, als sie erneut nach Italien aufbrach. Mailand war die erste Station ihres Exils: Dort arbeitete sie bis Februar 1939 als Kindermädchen. Dann floh sie erneut, gelangte über Frankreich nach England. Es folgten ein Umzug, eine Umschulung, eine neue Tätigkeit auf die andere. In Surrey arbeitete sie zunächst als Hilfskraft in einem Rekonvaleszentenheim, in Bristol begann sie über Vermittlung des Jüdischen Hilfskomitees die Ausbildung zur Krankenschwester. Englisch hatte sie bereits in Wien erlernt, so kam sie gut zurecht.

»Wir haben uns mit vielen Wissenschaftlerinnen beschäftigt, und auch da sieht man deutlich, dass sich Karrieren entwickeln konnten, die in Österreich nie möglich gewesen wären.«
Ilse Korotin

Doch der Ausbruch des Krieges zwang sie erneut weiterzuziehen. In Wales ergatterte sie über den Czech Refugee Trust einen schlecht bezahlten Job in einem Hostel für Waldarbeiter. 1940 lernte sie den um acht Jahre älteren slowakischen Flüchtling, Kommunisten und Spanienkämpfer Ivan Lipschitz kennen und heiratete ihn. So konnte sie ihm nach London folgen, wo sie in einem neuen Beruf zu arbeiten begann: als Näherin. Als ihr Mann in die tschechoslowakische Armee eingezogen wurde, übersiedelte sie erneut, nun nach Oxford, wo inzwischen ihre Mutter lebte, die sich ebenfalls nach England retten hatte können. Dort jobbte sie als Fabriksarbeiterin in einer Metall verarbeitenden Fabrik und besuchte zusätzlich die Abendschule, sie wollte sich auf ein Studium vorbereiten. Doch schon folgte der nächste Neuanfang: Nun ging es nach Slough, dort hatte sie eine Stelle als Laborantin in einer Buntmetallgießerei ergattert. Als der Betrieb einsparen musste, wurde sie gekündigt. Dieses Mal machte sie jedoch einen Karrieresprung: Sie wurde Mitarbeiterin und Lektorin bei einer wissenschaftlichen metallurgischen Zeitung in London.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reiste sie zu ihrem Mann in die Slowakei. Dort beherrschte sie aber die Landessprache nicht und war überdies als Deutschsprachige und Jüdin Anfeindungen ausgesetzt. Während der Kriegsjahre hatte sie es geschafft, mit Verwandten und Freunden lose in Verbindung zu bleiben. So erfuhr sie, dass Wolfgang Bock nach Wien zurückgekehrt war, und machte sich 1946 auf den Weg in ihre Heimatstadt – teilweise zu Fuß. In Österreich galt es zunächst, um die Wiedererlangung ihrer Staatsbürgerschaft zu kämpfen. Bis sie ihren Jugendfreund heiraten konnte, vergingen weitere Jahre. Erst 1949 gelang die komplizierte Scheidung von ihrem ersten Mann.
Noch einmal musste sich Susanne Bock in Wien eine neue Existenz aufbauen. Über Freunde in der kommunistischen Partei tat sich zunächst ein Posten als Sekretärin und Lektorin in der britischen Nachrichtenagentur auf. Als diese aufgelöst wurde, begann sie im Sommer 1947 für das „American Jewish Joint Distribution Committee“ zu arbeiten. 1951 wechselte sie zur damals neu gegründeten israelischen Fluglinie El Al, 1954 kam ihr Sohn Peter zur Welt. Noch einmal wechselte sie die Branche und machte sich mit einem Sport- und Spielwarengeschäft selbstständig. Später eröffnete sie mit einem Geschäftspartner einen Betrieb für keramische Wand- und Bodenbeläge. Ihr Arbeitsleben beendete sie schließlich als Sekretärin einer humanitären Organisation.


Die Arbeitsgemeinschaft „Frauen und Exil“
Begründet wurde die Arbeitsgemeinschaft „Frauen und Exil“ 2002 von der bereits verstorbenen Exilforscherin Siglinde Bolbecher. Heute gehören dem Team der so genannten „Frauen-AG“ an: die Historikerin und Soziologin Ilse Korotin (Leitung), die Judaistin und Historikerin Evelyn Adunka, die Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin Heidi Behn, die Journalistin und Zeithistorikerin Traude Bollauf, die Literaturwissenschafterin Susanne Blumesberger und Liesl Fritsch, die selbst im Exil in England zur Welt kam und als Kind mit ihrer Mutter nach Österreich zurückkehrte, die Juristin Primavera Driessen Gruber, die sich seit vielen Jahren des Themas Musiker und Musikerinnen im Exil annimmt, die Theaterwissenschaftlerin Christine Kanzler, die Museologin Hadwig Kräutler, die Exilforscherin Elisabeth Lebensaft, die Sozialwissenschaftlerin Irene Messinger, die Kulturwissenschaftlerin und Historikerin Katharina Prager, die Übersetzerin und Historikerin Katrin Sippel und Ursula Stern, die Koordinatorin der Frauen-AG.
Wer zu diesem Kreis dazustoßen möchte, ist jederzeit willkommen, betont die Frauen-AG. Interessante Einblicke in das Thema gibt es bei der Vortragsreihe Exil von Frauen –
historische Perspektive und Gegenwart. Das genaue Programm findet
sich auf: exilforschung.ac.at

Exil der einfachen Frauen. Es sind so vielfältige Geschichten wie jene von Susanne Bock, welchen die Frauen der Arbeitsgemeinschaft „Frauen und Exil“ im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge) in ihrer Arbeit auf der Spur sind. Wenn es um Menschen im Exil geht, werden gerne die erfolgreichen Wissenschaftler- oder Künstlerkarrieren vorgeführt. Doch für viele bedeutete die Flucht, sich anderswo eine völlig neue Existenz aufzubauen. Lineare Lebensgeschichten sind dabei die Ausnahme.
Der Frauen-AG in der öge war es seit ihrer Gründung im Jahr 2002 immer ein Anliegen, auch das Exil der einfachen Frauen zu dokumentieren, sagt Ursula Stern. Sie erzählt, dass gerade Susanne Bock selbst, die sich von Beginn an in der Frauen-AG engagierte und inzwischen Ehrenmitglied ist, darauf gepocht hat, „dass man auch das Exil der einfachen Frauen recherchiert“. So widmet sich die Frauen-AG bis heute grundsätzlich Frauenschicksalen im Exil.
Viele Tagungen hat man über die Jahre schon abgehalten, noch mehr Vorträge organisiert, und auch das eine oder andere Buch ist entstanden. Stellvertretend kann hier etwa der Band Wissenschafterinnen in und aus Österreich, herausgegeben von Brigitta Keintzel und Ilse Korotin, genannt werden. Die Historikerin und Soziologin Korotin ist auch die Leiterin der Frauen-AG.
Die beiden Wissenschaftlerinnen Irene Messinger und Katharina Prager, ebenfalls Mitglieder der Frauen-AG, veröffentlichten zuletzt das Buch Doing Gender in Exile. Geschlechterverhältnisse, Konstruktionen und Netzwerke in Bewegung, nachdem sie zuvor eine gleichnamige Konferenz organisiert hatten. Was ihnen im Rahmen ihrer Recherchen über die Jahre auffiel: Sich im Exil eine neue Existenz aufzubauen, war zwar durchaus beschwerlich. Mehr als Männer nützten Frauen die neue Situation aber auch für einen persönlichen Aufbruch. „Vielen standen plötzlich mehr selbstbestimmte Möglichkeiten offen“, sagt Messinger. „Das Beispiel, das ich sehr eindringlich finde, ist, dass das Leben junger orthodoxer Jüdinnen klar vorgezeichnet gewesen wäre: Heirat und Kinder. Durch das erzwungene Exil hatten sie auch andere Optionen, die manche ergriffen haben.“
Aber auch für Frauen, die in der alten Heimat bereits studiert hatten, eröffneten sich im Exil neue Möglichkeiten, betont Korotin. „Wir haben uns mit vielen Wissenschafterinnen beschäftigt, und auch da sieht man deutlich, dass sich Karrieren entwickeln konnten, die in Österreich nie möglich gewesen wären.“ Sie nennt dabei die Bereiche Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse in den USA, in denen einige Frauen aktiv wurden. Kehrten sie nach dem Sieg der Alliierten über die Nationalsozialisten allerdings wieder nach Österreich zurück, „hatten sie im Berufsleben wieder kaum Chancen gegenüber den Männern“, bedauert Stern. Schon vor der NS-Zeit hätten zudem Frauen, die zum Beispiel Medizin studiert hatten, oftmals unentgeltlich gearbeitet.
Messinger kennt aber auch andere Facetten. Sie lehrt an der Fachhochschule für soziale Arbeit in Wien und forscht dort derzeit über das Exil von Fürsorgerinnen, das waren die Sozialarbeiterinnen der 1920er- und 1930er-Jahre. Abseits weniger herausragender Einzelbiografien sei die Geschichte der Vertreibung und des Exils dieser Berufsgruppe noch nicht bearbeitet und bilde eine Leerstelle in der Professionsgeschichte. Auch eine andere Gruppe sei noch nicht beforscht, „jene, die im Exil social work studiert haben und dann nach Österreich zurückgekommen sind und hier das Selbstverständnis der Sozialarbeit stark beeinflusst haben“. Das will sie in ihrem aktuellen Projekt gemeinsam mit Thomas Wallerberger sichtbar machen.
Messinger kann ihrer Forschungsarbeit im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Fachhochschule nachgehen, gefördert vom Zukunftsfonds und Nationalfonds. Andere Projekte im Bereich der Exilforschung erhielten ebenfalls Forschungsförderungen, für Publikationen kann man um Druckkostenförderung ansuchen. Ein Teil der Forschungsarbeit erfolge jedoch unbezahlt – und es fehle auch an den Mitteln, um nötige Infrastruktur zu finanzieren. Die Frauen-AG verfügt beispielsweise über keine eigenen Räumlichkeiten und wäre daher nicht einmal in der Lage, einen Nachlass zu übernehmen, um diesen aufzuarbeiten, bedauert Korotin.

Fehlende Mittel. Bereits bei der Gründung der Exilgesellschaft 2002 und kurz darauf der Frauen-AG habe die inzwischen verstorbene Mitbegründerin, die Exilforscherin Siglinde Bolbecher, auf die Etablierung eines Lehrstuhls für Exilforschung sowie eine Ausstellung zum Thema gepocht, erzählt Stern. Beides wurde trotz vieler Gespräche bisher nicht realisiert. Die finanzielle Situation verschärft sich zudem zusehends, so Korotin. Nicht nur, dass es keine Mittel für die Frauen-AG gebe, auch Förderungen für einzelne Projekte seien immer schwerer zu lukrieren. Zuletzt habe etwa die Österreichische Nationalbank die Förderung von geisteswissenschaftlichen Forschungsarbeiten eingestellt. Das bedeute prekäres Arbeiten – und mache die Exilforschung auch für junge Wissenschaftlerinnen unattraktiv.
Was Korotin zudem ebenfalls bedauert: Über die Jahre habe sie viele spannende Projekte mitverfolgt, doch nach dem Ende der Laufzeit wurden die biografischen Unterlagen nicht vernetzt dokumentiert. Hier fehle die Nachhaltigkeit. Die Frauen-AG betont, dass es dringend eine Datenbank brauche, welche die Nachlässe und Interviews mit Zeitzeugen auffindbar mache. Oft seien die Hinterlassenschaften verstreut, Teile befänden sich in Archiven, andere bei Nachkommen. In einem elektronischen Archiv könnten die Bestände digital zusammengetragen und für die wissenschaftliche Bearbeitung erschlossen werden.
Dass der Exilforschung bisher so ein niedriger Stellenwert eingeräumt wurde, bedauern Stern, Korotin und Messinger. Sehr zuversichtlich sind sie nicht, dass sich da in absehbarer Zeit etwas ändert. Sie werden aber nicht müde, für die Anliegen der Exilforschung Bewusstsein zu schaffen – und dabei vor allem für das Erforschen von Frauenschicksalen. Frauen, das betrifft nicht nur das Exil, sondern auch den Widerstand, eine die Eigenschaft, im Nachhinein ihre Rolle herunterzuspielen, obwohl sich gerade Frauen nach der Flucht oft besser im Alltag zurechtfanden als Männer, so Korotin. Ihre Errungenschaften nachzuzeichnen, sei daher auch aus der feministischen Perspektive spannend – und könne nicht zuletzt, wie Messinger betont, auch herangezogen werden, wenn es um die Situation von geflüchteten Frauen heute gehe.
Das ist auch Stern ein wichtiges Anliegen. Sie betont, dass es in der Exilforschung einen Paradigmenwechsel von der ausschließlichen Befassung des historischen Exils während der Ära des Nationalsozialismus sowie des Austrofaschismus hin zu einer Erweiterung des Forschungsgegenstandes auf die gegenwärtigen Flucht- und Migrationsbewegungen gebe. Die Fragen, die zu stellen seien: „Gibt es vergleichbare Aspekte zwischen dem Exil von Frauen zwischen 1933 und 1945 und dem Asyl von Frauen heute? Was sind die Gemeinsamkeiten, was sind die Unterschiede? Ist der Beitrag zur Erinnerung an die Verfolgung konstitutiv für unsere Haltung gegenüber heutigen Fluchtbewegungen, und führt die eigene Flüchtlingserfahrung, sei es zur Zeit der Schoah, sei es in den Jahren nach 1945, zu praktizierter Solidarität mit den heute Verfolgten?“

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