Ein außergewöhnlicher Junge erzählt

In Samuels Buch nimmt uns der beliebte Schauspieler auf eine sozialrealistische und humorvolle Reise in seine künstlerische Familie und eine bewegte Jugend im kommunistischen Bulgarien mit. Im Gespräch mit Marta S. Halpert erzählt Samuel Finzi auch offen über antisemitische Codes von damals und heute.

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SAMUEL FINZI, geboren 1966 im bulgarischen Plovdiv, absolvierte ein Schauspielstudium an der Staatlichen Theater- und Filmakademie in Sofia und zog 1989 zunächst nach Paris und schließlich nach Deutschland. Nach einem ersten Engagement am Berliner HebbelTheater folgten Stationen an vielen deutschsprachigen Bühnen: Zwischen 2003 und 2005 gehörte Finzi zum festen Ensemble der Volksbühne Berlin und von 2005 bis 2010 zu dem des Deutschen Theaters Berlin. Bei Engagements in Zürich, Wien, Köln, Hamburg und in anderen Städten erarbeitete sich Finzi einen Namen als einer der herausragenden Darsteller auf deutschen Sprechbühnen. Bereits seit Ende der 1980er-Jahre arbeitete Finzi auch für verschiedene Film- und Fernsehproduktionen, wo er in Fernsehkrimis wie Bella Block und Tatort auftrat. Mit der Titelrolle des Polizeipsychologen Dr. Vincent Flemming in der gleichnamigen intelligenten ZDF-Krimireihe erlangte er große Popularität. Für seine herausragenden Arbeiten in Film und Theater wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. wählte ihn das renommierte Fachmagazin Theater heute zum Schauspieler des Jahres 2015; ferner erhielt er den Deutschen Schauspielpreis und den Gertrud-Eysoldt-Ring. © Rafaela Pröll

WINA: Im Deutschen Theater Berlin sind Sie mit dem äußerst fordernden Abend Kommt ein Pferd in die Bar nach dem Roman von David Grossman, der 2018 bei den Salzburger Festspielen herauskam, im Dauereinsatz. Vor Kurzem erst haben Sie zwei Dreharbeiten mit den internationalen Filmstars John Malkovich* und Anthony Hopkins** abgeschlossen. Und Anfang April ist Ihr autobiografischer Roman Samuels Buch im Ullstein Verlag erschienen. Wie schaffen Sie das alles, und warum haben Sie gerade jetzt über Ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen in Bulgarien sowie über die Ankunft im Westen geschrieben?
Samuel Finzi: Es ist schon einige Jahre her, dass die Literaturagentin Karin Graf an mich herangetreten ist. Sie sagte: „Sie müssen unbedingt schreiben, denn so wie Sie auf der Bühne spielen, können Sie sicher auch schreiben.“ Erfolgreich und eindringlich überredet hat mich aber etwas später der Schriftsteller Maxim Biller. Ich hatte in der Wochenzeitung Die Zeit drei Jahre nach dem Tod von Regisseur Dimiter Gotscheff, der einen wesentlichen Anteil an meiner Laufbahn hatte, einen Geburtstagstext in Briefform veröffentlicht. Biller ließ danach nicht mehr los, und so setzte ich mich noch vor der Pandemie hin und begann zu schreiben.

Abgesehen von dem Vergnügen, das ich bei Ihrem jüdischen, warmherzigen Humor, der bildhaften Sprache und der oft bitteren Ironie verspürte, gab es da noch etwas, und zwar Ihre unverkennbare Stimme, die man von der Bühne und aus Film und Fernsehen kennt: Beim Lesen hörte ich Ihre individuelle Sprachmelodie, ihren besonderen Tonfall, es war, als erzählten Sie mir die Geschichte ganz persönlich. So ergeht es doch sicher nicht nur mir, oder?
I Das kann ich nicht beurteilen. Aber ich habe den Buchtext jetzt selbst eingelesen, daher gibt es von Samuels Buch auch eine Hörbuchfassung (bei HörbuchHamburg HHV GmbH). Einen eigenen Text vorzulesen und aufzunehmen, war auch für mich ein unbekanntes Feld. Aber das passt gut zu der Geburt dieses Buches, all der Verunsicherung und Verwirrung.

Sie wurden in eine Künstlerfamilie hineingeboren: Ihr Vater, Itzhak Finzi, ist ein berühmter Schauspieler in Sofia; ihre Mutter, Gina Tabakova, eine erfolgreiche Pianistin, der die Kommunisten sogar einige Konzerte im Westen gestatteten. Beide förderten Ihre sprachlichen und musikalischen Talente – Sie selbst dachten daran, einmal Dirigent oder Diplomat zu werden. Mit Ihrem Vater lebten Sie schon sehr früh Ihr komödiantische Begabung aus. Ihre Eltern haben Sie stark geprägt, ich hoffe sie erleben noch Ihre großen Erfolge?
I Ja, meine Mutter ist 80 Jahre alt, mein Vater ist vor Kurzem 90 geworden. Sie leben beide in Bulgarien, sind dort verwurzelt, haben aber jeweils schon lange neue Partner. Mütterlicherseits habe ich ein Schwester, die lebt in London und ist 19 Jahre jünger. Und mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich noch eine Schwester habe, sie wird jetzt sechs Jahre.

WINA-Autorin Marta S. Halpert im Gespräch mit Schauspieler Samuel Finzi über dessen vielbeachtetes Buchdebüt. © Reinhard Engel

Und wie alt sind Ihre beiden Kinder?
I Mein Sohn ist 15, meine Tochter wird elf.

Haben Sie Ihre frühen Erlebnisse für die beiden niedergeschrieben, damit sie wissen, wo und wie Sie aufgewachsen sind?
I Ich habe das Buch meinem Sohn geschenkt, was er damit macht, weiß ich nicht … (lacht) Mir war es wichtiger, über ein Kind und später über einen Heranwachsenden zu schreiben, der in den 1970er- und 1980er-Jahren auf dem Balkan, in Bulgarien, im kommunistischen System aufwächst. Meine Intention war es, das Umfeld, die Atmosphäre greifbar rüberzubringen. Auch, um zu zeigen, wann die ersten Sehnsüchte aufkommen, sich zu befreien von dieser spezifischen Welt.

 

„Zuerst war ich ziemlich unentschlossen,
worüber ich eigentlich schreiben wollte.
Der Rat der Freunde lautete:
,Schreib doch einfach über dich!

 

Als facettenreicher Schauspieler stellen Sie auf der Bühne und in über 150 Filmproduktionen sehr unterschiedliche Charaktere dar (siehe Bio-Kasten). Ist es Ihnen leicht gefallen, über sich selbst zu schreiben?
I Zuerst war ich ziemlich unentschlossen, worüber ich eigentlich schreiben wollte. Der Rat der Freunde lautete: „Schreib doch einfach über dich!“ Ich empfand das als eine Möglichkeit, mir die Technik des Schreibens zu erschließen, indem ich mich über mein Umfeld, meine Geschichte an eine neue, eigene Geschichte herantraue. Ich hoffte, dass sich daraus der Weg ergeben würde. Aber als ich dann anfing zu schreiben und mein gelebtes Leben wieder erweckt wurde, wollte ich nicht mehr aufhören. Vor allem, weil ich merkte, dass ich über eine Zeit und einen Raum schreibe, die in Deutschland – auch aufgrund der eigenen Geschichte – nicht bekannt sind. So entstanden aus dem Narrativ über einen Jungen, der in einer außergewöhnlichen Familie aufwächst, auch Einblicke in das europäische Judentum und in die europäische Politik während des Kalten Krieges.

Sie haben dankenswerterweise Diskriminierung und Antisemitismus des Systems und der Menschen in Ihrem Umfeld nicht ausgelassen. Sie gehen in Samuels Buch mit Ihren teilweise brutalen antisemitischen Erfahrungen in Bulgarien klar und offen um. Es dringt auch viel Jüdisch-Atmosphärisches durch, wenn sie sowohl die charmanten wie auch die weniger rühmlichen Wesenszüge ihrer weit verzweigten Familie beschreiben. Daher verwundert es, insbesondere nach der Lektüre des Buches, dass der Ullstein Verlag bei Ihrer Biographie am Cover und in sämtlichen Infotexten Ihr Jüdisch-Sein verschweigt. Warum diese Zurückhaltung des Verlages?
I Ich achte nicht so auf meine Präsentation, aber das lustige Coverfoto in Schwarz-Weiß – wo ich auf dem Kopf stehe – habe ich ausgesucht. Dann bekam ich den Buchumschlag zur Ansicht – mit gelber Schrift. Als ich das Maxim Biller zeigte, rief er: „Sag mal, warum fällt den Deutschen, wenn es um Juden geht, immer die Farbe Gelb ein?“ Ich habe daraufhin nachgefragt, und da hieß es vom Verlag „Nein, um G-ttes Willen, niemals dachten wir an so etwas. Gelb ist jetzt einfach trendy!“ Dass die Farbe in Mode ist, habe ich neulich in einer Auslage in einem Buchladen selbst gesehen: Da stand mein Buch zwischen jenen über den Papst und Prinz Harry, darunter war Georg Gysi platziert und über mir der König des Blues: BB King. OK, damit kann ich leben.

 

„Wenn ich etwas annehme, dann widme ich mich dem ganzen
Projekt und denke nicht nur an meine Rolle.
Ich muss überzeugt sein von dem, was ich mache.“
Samuel Finzi

 

Mit 23 Jahren, am 17. Dezember 1989, sind Sie in Berlin gelandet. Haben Sie in Deutschland jemals Antisemitismus erlebt?
I Ehrlich gesagt, nein, aber vielleicht weil ich die Codes nicht lesen konnte: Weder Sprache noch Kultur waren mir geläufig. Als man mir die deutsche Staatsbürgerschaft zweimal verweigerte, habe ich die Beamtin gefragt, ob das etwas mit meinem Namen zu tun hätte. Sie verneinte das vehement, das wäre eine Unterstellung.

Das war doch am Anfang Ihrer Karriere, und später?
I So direkt habe ich es nie gespürt, aber neulich, nach dem ich die Serie Das Haus der Träume (RTL) über ein jüdisches Kaufhaus im Berlin der Zwanzigerjahre abgedreht hatte – da spiele ich einen jüdischen Vater, der alles unternimmt, um seiner Tochter ein besseres Leben in besten Kreisen zu ermöglichen –, hatte ich ein Erlebnis der besonderen Art: Ich habe danach ein merkwürdiges, aber sehr gut gemeintes Kompliment bekommen: „Ich klatsche in alle Hände, ich bin begeistert, zum ersten Mal eine authentische Judendarstellung …“ Und das war durchaus positiv gedacht.

Wie haben Sie darauf reagiert?
I Ja, vielen Dank, schrieb ich zurück – und übrigens kann ich Russe und Franzose auch, nur Chinesen wird man mir vielleicht nicht glauben …

Samuel Finzi: Samuels Buch. Ein autobiografischer Roman. Ullstein 2023, 224 S., 22,99 €

Sie fahren oft nach Bulgarien, da gab es jüngst Parlamentswahlen. Hat sich das Land für Sie verändert?
I Nur wenig, positiv ist die EU- und NATO-Mitgliedschaft Bulgariens. Aber die Gesellschaft hat sich leider nicht verändert. Es ist sogar spießiger geworden, obwohl die Voraussetzungen geschaffen wurden, sich der Welt zu öffnen. Jeder denkt nur an sich und kümmert sich wenig um die größeren Perspektiven für das Land und seine Menschen insgesamt. Die Wahlbeteiligung von 35 Prozent ist beschämend, man will keine Verantwortung tragen, das finde ich für eine Demokratie wirklich tödlich. Natürlich gibt es dort auch tolle Menschen, aber die leben in eigenen Blasen.

Das Schreiben hat Ihnen offensichtlich Spaß gemacht. Gibt es einen zweiten Band von Samuels Buch?
I Ich weiß nicht, ob das autobiografisch sein wird. Ich habe die letzten 35 Jahre durchgearbeitet und sehe bei den Autobiografien von Schauspielern, dass es meistens Aufzählungen sind: „Ich habe mit dem gearbeitet, mit der gespielt“ und ein paar Anekdoten dazu. Ich möchte mir etwas Besonderes einfallen lassen.

Wie sehen Ihre künstlerischen Pläne aus, mehr Theater oder Film?
I Ich mache nur mehr, was mich wirklich interessiert– und vor allem ist mir wichtiger zu wissen, mit wem ich das mache, also mit welchen Menschen ich zwei Monate intensiv verbringe. Denn wenn ich etwas annehme, dann widme ich mich dem ganzen Projekt und denke nicht nur an meine Rolle. Ich muss überzeugt sein von dem, was ich mache. Sie sind bei der Leipziger Buchmesse, machen viele Lesereisen in Deutschland.

Haben Sie Österreich auch eingeplant?
I Ich mag Wien und würde mein Buch sehr gerne hier vorstellen und wieder spielen … Wenn Sie eine Idee haben, dann komme ich!

 


 

* Seneca heißt die tiefschwarze Satire über Macht, u. a. mit Geraldine Chaplin, Julian Sands und Tom Xander, die derzeit in den Wiener Kinos zu sehen ist.
** Im Film One Life geht es um das Leben von Nicholas Winton, der in der Nazizeit Kindertransporte aus Prag organisiert hat. Finzi hat die Schlüsselfigur des Rabbi Hertz gespielt und erinnert sich: „Das hätte ich mir nie vorstellen können: Ich habe in der Prager AltneuSchul gedreht, wo der Golem liegt, neben dem Stuhl von Rabbi Löw.“

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