Die adeligen Damen hielten beim Austausch von gesellschaftlichem Klatsch ihre Hände vor den Mund, weil bekannt war, dass Prinzessin Alice ihr Hördefizit wunderbar durch das Lippenlesen kompensieren konnte. Das erzählte man sich in den guten Zeiten. Aber im Jahr 1943, nach der Besetzung Athens durch deutsche NS-Truppen, stellte sich Alice von Griechenland bei ihrem Gestapo-Verhör komplett taub: Sie tat so, als könnte sie weder die Fragen hören noch irgendetwas verstehen. Die Gestapo unterbrach das Verhör und ließ sie gehen.
Mit diesem Trick schützte die Mutter des kürzlich verstorbenen Prinzen Philip, des Ehemanns von Königin Elizabeth II von England, nicht nur sich selbst, sondern auch die jüdische Familie Cohen, die sie im königlichen Palast von Athen versteckte und so deren Überleben sicherte.
Die griechische Königsfamilie war mit dem jüdischen Parlamentsabgeordneten Haimaki Cohen aus Trikala (im Norden des Landes) befreundet. Als die Wehrmacht 1941 in Griechenland einfiel, flohen die Cohens nach Athen, das noch unter italienischer Herrschaft stand, weil dort die antijüdischen Ausschreitungen weniger schlimm waren. Doch 1943, nachdem die Italiener vor den Alliierten kapitulierten, begann die Jagd auch auf die Juden in Athen. Zu diesem Zeitpunkt war Familienvater Cohen verstorben, seine Witwe Rachel und die fünf Kinder suchten nach einem Zufluchtsort. Die vier Söhne flohen nach Ägypten, um sich in Kairo der griechischen Exilregierung anzuschließen. Für Rachel war diese Route aber zu mühsam und gefährlich.
Prinzessin Alice hörte von der verzweifelten Lage und bot Rachel und deren einziger Tochter Tilde Schutz in einer separaten Wohnung im Palast. Etwas später kam noch ein Sohn in das Versteck, der die Flucht nach Ägypten nicht geschafft hatte. Bis zur Befreiung Griechenlands wohnten die Cohens in Alices Residenz.
Am 30. Oktober 1994 nahmen Prinz Philip und seine Schwester Sophie an der Zeremonie in Yad Vashem teil, bei der ihre Mutter postum als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde. Bei dieser Gelegenheit besuchten die beiden Geschwister zum ersten Mal das Grab von Prinzessin Alice in der Krypta der Maria Magdalenen Kirche im Osten Jerusalems, die auf dem Ölberg in der Nähe des Garten Gethsemane steht. In dieser Krypta befinden sich auch die sterblichen Überreste der Großgräfin Elizabeth Feodorovna, der Enkelin von Queen Victoria, die in der Russischen Revolution von 1917 gemeinsam mit der Nonne Varvara Yakovleva als Märtyrerin starb. Ihre Nichte, Prinzessin Alice von Battenberg, Prinz Philips Mutter, besuchte in den 1930er-Jahren die Kirche und verfügte, nach ihrem Tod neben ihrer Tante bestattet zu werden. 1988, fast 20 Jahre nach ihrem Tod im Londoner Buckingham Palace, wurden ihre Gebeine nach Jerusalem überstellt. Aber wer war diese mutige, königliche Judenretterin?

1994 nahmen Prinz Philip und seine Schwester Sophie an der Zeremonie in Yad Vashem teil, bei der ihre Mutter postum zur „Gerechten unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde.

Am 25. Februar 1885 wurde Prinzessin Victoria Alice Elizabeth Julia Marie von Battenberg in Anwesenheit ihrer Urgroßmutter, der britischen Königin Victoria, in Windsor Castle geboren. Sie war die Tochter von Prinz Ludwig von Battenberg und Prinzessin Viktoria von Hessen-Darmstadt. Ihr Vater diente in der britischen Marine, wie später auch Alices Sohn, Prinz Philip. Während des Ersten Weltkriegs legte das britische Königshaus im Jahr 1917 seinen deutschen Familiennamen Sachsen-Coburg und Gotha ab und nannte sich von da an Windsor.
Auf Wunsch von König Georg V nahm Ludwig von Battenbergs Familie ebenfalls einen englischen Namen an, und zwar Mountbatten. Er ist heute ein Bestandteil des persönlichen Nachnamens der Nachkommen Elizabeths II.
Mit dem englischen Königshaus verwandt war er durch seine Ehe mit einer Enkelin von Queen Victoria und aus dieser Ehe ging als erstes Kind 1885 Alice hervor.
Bereits mit vier Jahren entdeckte man ihr eingeschränktes Gehör, und da das damals als Schande galt, wurde es kaschiert und das Kind damit allein gelassen. Dennoch war die Familie überzeugt, sie würde „eines der hübschesten Mädchen in ganz Europa werden“. Mit dem Tod Queen Victorias 1901 ging das viktorianische Zeitalter zu Ende, die Mitglieder der Familie Battenberg lebten in Hessen, emanzipierten sich stärker vom englischen Hof, fühlten sich jetzt mehr deutsch als englisch. Alice von Battenberg reiste im Juni 1902 mit ihrer Familie nach London, um an der feierlichen Krönung von Edward VII teilzunehmen. Alice wohnte im Buckingham Palast und traf unter den illustren Gästen auf einen jungen, gut aussehenden Mann, in den sie sich verliebte. Der Angebetete war Andreas, ein griechischer Prinz mit dänischen Vorfahren, der vierte Sohn von König Georg I. von Griechenland. Alice hatte das Lippenlesen inzwischen so gut gelernt, dass sie sich mehrsprachig unterhalten konnte, sehr bald auch auf Griechisch.
Alice, seit ihrer Heirat Mitglied des griechischen Königshauses, begann nach ihrem Umzug nach Athen, sich sozial zu engagieren. Sie richtete etwa eine Stickereischule für Frauen ein. Mit dem Ausbruch des Griechisch-Türkischen Krieges 1919 fand das beschauliche Familienleben ein jähes Ende. Alice ging zunächst in ein Militärhospital, um Verwundete zu pflegen. Bald organisierte sie an der Front Feldlazarette und erlitt bei der Pflege Verwundeter schwere psychische Belastungen. Ein tödliches Attentat auf König Georg I. zeigte, wie unsicher der griechische Thron war. Monarchisten und Republikaner standen einander in Feindschaft gegenüber, 1917 wurde die Abdankung des nunmehrigen Königs Konstantin I. erzwungen, die Königsfamilie ging ins Exil.
In Korfu kam 1921 Philip zur Welt, der erste Junge nach vier Mädchen, Als Andreas bei Griechenlands Eroberungskrieg in Kleinasien wegen Befehlsverweigerung als „royalistischer Verräter“ verhaftet wurde, setzte Alice alles in Bewegung, und rettete das Leben ihres Mannes knapp vor einer Erschießung. Die Familie floh aus Griechenland und wurde lebenslang verbannt. Das Baby Philip erlebte die Flucht versteckt in einer Orangenkiste.* Als sich die Familie in Paris niederließ, war sie fast mittellos. Alice eröffnete ein kleines Geschäft, in dem sie Stickereien und Bilder verkaufte. 1930 verließ Andreas seine Familie, um zu seiner Geliebten nach Monaco zu ziehen.
Schon Ende der 1920er-Jahre begann Alice, in der Religion Halt zu suchen. Infolge ihrer psychische Krise ließ ihre Mutter sie in das Sanatorium Schloss Tegel in Berlin einweisen, die erste psychoanalytische Klinik der Welt, wo eine Schizophrenie diagnostiziert wurde. Während sie im Sanatorium war, führte Andreas das Leben eines Bonvivant und kümmerte sich nicht um seinen Sohn.

»Ich vermute, dass es ihr nie in den Sinn gekommen ist, dass ihre Handlung in irgendeiner Weise etwas Besonderes war.«
Prinz Philip

 

Der jüdische Pädagoge Kurt Hahn erzog Prinz Philip. Philip, der zu dieser Zeit bei diversen deutschen Verwandten lebte, wurde von Kurt Hahn (18861974), einem jüdischen Pädagogen erzogen, der ihm zeitlebens als Mentor und Vorbild galt. Um dem nazistischen Deutschland und wiederholter Haft wegen seiner lautstarken Kritik an Hitler zu entfliehen, war der in Oxford, Heidelberg und Göttingen ausgebildete Hahn in den frühen 1930er-Jahren nach England geflüchtet und gründete hier ein Internat, das dem berühmten Salem-Internat am Bodensee nachempfunden war. Hier wurde Prinz Philip erzogen und später auch Prinz Charles.
Der Schüler und spätere Duke of Edinburgh blieb seinem Lieblingslehrer Hahn lebenslang verbunden und gemeinsam gründeten sie 1956 das internationale Jugendprogramm The Duke of Edingburgh Award, das Jugendliche zwischen 14 und 25 Jahren ebenso zur Selbstentwicklung animiert, wie auch zur uneigennützigen Hilfsleistungen an Bedürftige anspornt. Da diese Jugendtreffen zumeist an einem Samstag stattfanden, wurde ein separater Zweig für jüdische Jugendliche erstellt, mit koscherer Verpflegung und unter Berücksichtigung von jüdischen Feiertagen; auch in Israel existiert ein Zweig.
1937 zog Alice nach Griechenland zurück, das seit 1936 mit Zustimmung des Königs eine Militärdiktatur war. Hier wollte sie mit ihrem Sohn Philip leben. Das scheiterte am Ausbruch des Krieges zwischen Großbritannien und Deutschland. Philip musste im Seekrieg in der britischen Marine dienen.
Im April 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht in Athen ein, da brach das Grauen aus: Bei einer Hungersnot starben Zehntausende von Menschen. Während fast alle Mitglieder der königlichen Familie flohen, blieb Alice, um zu helfen. Neben der Organisation von zwei Waisenhäusern und Krankenbesuchen in Armenvierteln, richtete sie eine der größten Suppenküchen der Stadt ein. Als ein Wehrmachtsgeneral die deutschstämmige Adelige fragte, was er für sie tun könnte, antwortete sie knapp: „Sie können Ihre Truppen aus meinem Land abziehen.“
1947 verlobte Philip sich mit Prinzessin Elizabeth, aber der Empfang durch das britische Königshaus war etwas unterkühlt: Drei seiner deutschen Schwager waren NS-Größen.
1949 legte Alice endgültig ihre Titel und weltlichen Kleider ab und gründete auf der griechischen Insel Tinos die Maria-Martha-Schwesternschaft. Fortan trug sie nur noch ein graues Nonnenhabit, auch bei der Krönung ihrer Schwiegertochter am 2. Juni 1952. Nach dem Militärputsch in Griechenland 1967 musste sie das Land verlassen. Sie zog zu ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in den Buckingham-Palast eine kettenrauchende Nonne, die gerne Canasta spielte wo sie am 5. Dezember 1969 starb.
„Ich vermute, dass es ihr nie in den Sinn gekommen ist, dass ihre Handlung in irgendeiner Weise etwas Besonderes war“, sagte Prinz Philip bei der Zeremonie für seine Mutter in der Gedenkstätte Yad Vashem: „Sie war eine Person mit einem tiefen religiösen Glauben, und sie hätte es als eine vollkommen natürliche menschliche Reaktion auf Mitmenschen in Not angesehen.“

Prinzessin Alice von Battenberg (1885– 1969) war die Tochter von Prinz Ludwig von Battenberg und Prinzessin Viktoria von Hessen-Darmstadt und gründete einen Orden für griechisch orthodoxe Nonnen.

 

Bild: Noralí Nayla on Unsplash 

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here