Ernst Fettner:„Geh’ du voran.“Ein Jahrhundert. Hg. v. Jana Waldhör, CLIO 2021, 184 S., 25 €

Ernst Fettner, den ich Ende September noch in seiner Wohnung besuchen konnte, bevor er nächtens stürzte und sich ein Bein brach, macht genau das klar: Ja, er sei Zeitzeuge, aber eben nicht nur. Gerne erzählt er aus seinen Kinder- und Jugendtagen, die er großteils in einem jüdischen Waisenhaus in Baden verbrachte, über seine Lehrzeit in Wien, seine Verhaftung nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, über seine Jahre in England und sein Engagement bei „Young Austria“ und wie es ihm dort gelang, Teil der britischen Armee zu werden, als Soldat der Alliierten in der Normandie zu landen und später zunächst in Deutschland, dann in Kärnten als Besatzungssoldat eingesetzt zu sein.

Wichtig ist ihm aber auch all das, was nach 1945 passierte: seine Laufbahn als Journalist zunächst beim Volkswille in Klagenfurt, dann bei der Volksstimme in Wien – beides Medien der KPÖ. Seine Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei. Seine Gewerkschaftsarbeit. Sein Leben mit seiner ersten Frau und Mutter seiner beiden Söhne, die jedoch recht früh an Krebs verstarb, seine Ehe mit seiner zweiten Frau, mit der er schließlich sogar Goldene Hochzeit feiern sollte.

»[…] nach Jahrzehnten wird mir intensiv bewusst,
was alle zu Tode gebrachten Angehörigen versäumt haben.«
Ernst Fettner

All das hat Fettner nun in dem Buch Geh’ du voran. Ein Jahrhundert festgehalten. Der Band entstand in Zusammenarbeit mit Jana Waldhör vom Literaturhaus Wien. Er enthält neben den Erinnerungen viele Familienfotos, Dokumente, aber auch Briefe aus der NS-Zeit, darunter das letzte Schreiben des Vaters an seinen Sohn vom 27. August 1939. Der Vater sollte schließlich im KZ Dachau sterben, die Stiefmutter und zwei seiner Halbgeschwister wurden nach Maly Trostinec deportiert und dort ermordet. Die Mutter war noch in seiner Kindheit an der Grippe verstorben, die ältere Schwester konnte sich nach Palästina retten, die jüngste Halbschwester gelangte mit einem Kindertransport nach England.

Abgedruckt finden sich in dem Band auch Auszüge des Mailverkehrs zwischen Waldhör und Fettner: Sie bringen eine neue, sehr reflektierende Ebene in diese Erinnerungen. So schrieb er etwa nach Durchsicht der Fotos an Waldhör: „Insbesondere die Originale emotionalisie-ren auch nach vielen Jahren stark. Gerade auch nach Jahrzehnten wird mir intensiv bewusst, was alle zu Tode gebrachten Angehörigen versäumt haben, ein Leben, wie ich es geführt habe, in ähnlichen Bahnen verlaufend, in Freiheit nämlich. Es erweckt zudem ein schlechtes Gewissen, nicht genug getan zu haben, um diese Menschen zu retten.“ Und ein anderes Mal, im März 2020: „Soeben erfahre ich, dass einer meiner ältesten Mitkämpfer, Hans Klamper, in der Nacht auf heute gestorben ist. Er wird schon morgen bestattet, Zentralfriedhof Tor 4/Jüdischer Friedhof. Er war mein Jahrgang, auch ein MaiKind. Ein Schock für mich. Ich dürfte nun einer der ältesten Mohikaner der englischösterreichischen Jugendemigration sein. Was bedeutet das für uns? Ein Geschichterl mehr oder weniger, aber vor allem: now or never. Wir müssen uns beeilen.“

Beeilt haben sich Fettner und Waldhör, und so erschien nun im Herbst dieses Buch, das sich ein bisschen wie ein Fotoalbum mit vielen, vielen hinzugefügten Erläuterungen, Erklärungen, Ergänzungen anfühlt. Hier erzählt ein Zeitzeuge nicht nur, was er erlebt hat, er lässt einen auch teilhaben an seinen Gedanken, seiner politischen Entwicklung, seinen persönlichen Familienmomenten, seinen Leidenschaften. Eine davon war, Österreich wieder als freies Land zu sehen.

 

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