Gidi Tenner, 35. Er lebt seit 2017 in Israel und arbeitet für ein bekanntes Hightech-Unternehmen   

Wir sind ja schon einiges gewohnt, aber es war total überraschend, sehr dramatisch; es herrschte Chaos, man hat Menschen massakriert und abgeschlachtet, ihre Handys gestohlen und den Familien die Videos geschickt …

„Aber der Alltag geht weiter und wir werden versuchen,
das Trauma zu bewältigen.“

Zu Anfang war das Ausmaß dieser Katastrophe noch nicht einmal ansatzweise klar – es ist das schlimmste Trauma, das ich jemals erlebt habe. Der blanke Horror. Ich habe mich noch nie so schrecklich gefühlt … Es ist ganz anders als alle bisherigen Konflikte, sodass das kollektive Sicherheitsgefühl so massiv beeinträchtigt wurde. Es ist ein unvorstellbar massiver, schwerer Vorfall.

Aber der Alltag geht weiter und wir werden versuchen, das Trauma zu bewältigen. Und wir hoffen, dass die Armee die Sicherheit wieder herstellt.

Ich habe Termine, und dazwischen gibt es Raketenalarm, und wir gehen in den Bunker; das ist eben jetzt der Alltag, das muss funktionieren. Ich bin in Tel Aviv , nicht in Gaza. Es geht darum, einen kühlen Kopf zu bewahren und den Alltag zu meistern.



Wir werden nie wieder dieselben sein

N.S., 28, kommt aus einer österreichischen Familie und lebt in Tel Aviv.

Ich bin am Samstag um sechs Uhr früh aufgewacht wegen der Sirenen, aber das passiert ja öfter. Beim zweiten Mal war’s dann viel stärker, und ich habe verstanden, dass etwas nicht ok ist. Ich war allein zuhause, rundherum hat es überall gekracht. Ich lief mit meinen Hunden in den Ma’amad. Dann habe ich in die Nachrichten in den Social Media geschaut und verstanden: Es ist schlimm. Ein Video mit einer jungen Frau, die aus einem Jeep voller palästinensischer Terroristen um Hilfe schreit. Es wurde alles immer schlimmer. Immer mehr verschleppte Israelis, auch ein Soldat … Ich dachte, hoffentlich stimmt das nicht, ich habe viele Freunde in der Armee. Dann waren es plötzlich über hundert verschleppte Israelis und die vielen Menschen, die auf dem Festival waren … Wir fahren auch oft auf solche Partys …

Meine Großeltern waren im Holocaust – ich habe so um die zwei ermordeten Kinder in der Familie getrauert –, jetzt waren so viel mehr Kinder, alte Frauen, ich denke an meine Oma, an meine Familie – es könnten sie sein …

Ich konnte das alles kaum glauben, ich war zwei Jahre in der Armee. Wenn dort jemand den Zaun der Basis nur angerührt hat, sprangen schon alle auf. Wie konnte das jetzt geschehen?! Ich schaue die Namenslisten der Gefallenen durch, noch 20 Namen, noch 50 Namen, noch und noch … Es werden immer mehr und mehr Namen, es gibt schon mindestens zehn, die ich kenne.

„Aber ich würde nie hier weggehen, das ist undenkbar.
Ich bin patriotisch und liebe Israel.“

Im Jom-Kippur-Krieg kämpften Armee gegen Armee – jetzt sind sie in die Häuser eingedrungen, haben Babys die Arme abgeschnitten, haben am Weg die Hunde und Katzen erschossen, vergewaltigt … Das sind Dämonen. Es sind schon weit mehr als 1.000 Tote, und es ist noch nicht aus …

Europa und die USA sind jetzt auf unserer Seite, aber warum musste so etwas passieren, damit man uns glaubt? Und es ist so ironisch, dass die Kinder, die wir im Krieg von 2014 verschont haben, vielleicht die Terroristen von jetzt sind …

Es war für mich ein Gewissenskonflikt, als ich in der Armee war, dass manchmal auch Zivilisten im Krieg von damals sterben mussten. Aber die Hamas würde niemanden hier verschonen, sie würden uns keinen Ausweg lassen, wenn sie noch weiter rein könnten.

Die jungen Soldaten, die die verstümmelten Leichen wegbringen mussten, werden nie mehr sein wie vorher, sie werden ihr Leben lang traumatisiert sein. Es ist eine Katastrophe. Ich habe noch nie so etwas gesehen, dass erfahrene Ärzte und Psychiater, die schon in allen Krisengebieten gewesen sind, weinen. Es wird alles nie mehr dasselbe sein, wir werden nie mehr dieselben sein. Alles, was vorher war, ist unbedeutend, lächerlich …

Ich kann kaum mehr schlafen. Diese Bilder auf Telegramm …, der Bruder meiner Freundin ist Kommandant an der Grenze zu Gaza, viele Freunde wurden eingezogen … Eine Freundin aus der Armee schrieb uns, als sie im Bunker in Ofakim verschanzt war: „Ich bin schwanger. Und ich sitze hier eingeschlossen, mit meinem einjährigen Sohn auf dem Schoß und mit einem Messer in der Hand …“ Sie wurde gerettet, aber eine andere, die Polizistin war, schrieb vom Dach einer Polizeikommandantur: „Ich bin von Feinden umringt und habe keine Munition mehr, was soll ich machen?“ Es dauerte viele Stunden, bis man ihre Leiche herunterholen konnte.

Ich versuche mich zu beschäftigen, kümmere mich um andere, wir kaufen Lebensmittel ein für Familien aus dem Süden und für Soldaten, wir versuchen für die verwaisten Tiere Häuser zu finden. Wenn ich allein bin und nichts zu tun habe, weine ich nur … Und ich habe jetzt auch oft ein Messer bei mir.

Auch am Samstag gab es hier viele Raketen, aber sonst ist es so verdächtig still. Hier leben viele Araber, wir sind mit ihnen befreundet, wir kaufen täglich bei ihnen ein. Aber da ist die Angst – was ist, wenn …? Wenn die Araber in die Häuser von Juden eindringen? Wo ist es sicherer, in den kleinen Straßen oder in den größeren Gebäuden?

Aber ich würde nie hier weggehen, das ist undenkbar. Ich bin patriotisch und liebe Israel. Es ist unglaublich zu sehen, wie alle hier zusammenhalten, trotz allem! Alles ist überfüllt von freiwilligen Helfern … Jeder tut, was er kann, man ermutigt sich gegenseitig. Wir sind schon ein besonderes Volk!



Wir sind gekommen um zu bleiben

K.L. ist Marketing-Direktorin eines großen Unternehmens in Tel Aviv und Mutter von zwei kleinen Kindern.

Wir sind alle traumatisiert – Donnerstagnacht vor dem Krieg waren wir noch bei einem großen Festival mit tausenden Menschen beim Toten Meer und haben getanzt. Freitag um 6:30 Uhr weckte mich mein Mann, und die Sirenen gingen los; ich verstand zuerst gar nicht, was da abging, und lief mit den Kindern in den Ma’amad (Sicherheitsraum). Und auch, als wir die Nachrichten sahen, verstanden wir noch nicht das Ausmaß dieser Tragödie.

Ich bin seit damals nicht aus dem Haus gegangen, habe Angst, vor die Tür zu gehen, Angst vor Terroristen.

Vor den Kindern (knapp zwei und 3,5 Jahre alt) versuchen wir so zu tun, als wäre alles in Ordnung, wir machen ein Spiel daraus, wenn die Sirenen losgehen und wir in den Ma’amad müssen, wir tanzen und singen in dem kleinen, engen Raum. Aber mein Älterer hat schon begonnen zu fragen: „Mami, warum gibt es die Sirenen, warum gehen wir in den Ma’amad?“

Ich habe ihm erklärt, dass es hier sicher ist vor allem Bösen, aber seither klebt er an mir und will nicht weg und erschrickt vor jedem Geräusch.

„ … und wir werden da rauskommen – stärker denn je!“

Jedes Mal, wenn ich Nachrichten sehe oder News in den Social Media, bricht mein Herz in tausend Teile. Es ist reiner Horror; diese Mörder vergewaltigen Mädchen und Frauen und zerren sie durch die Straßen, ermorden ganze Familien. Ich kann diese Bilder von den ermordeten Babys, von den Mädchen mit Blut zwischen den Beinen nicht wegschieben, sie kommen immer wieder.

Wenn meine Kinder abends endlich schlafen, kann ich nicht aufhören zu weinen.

Die Hamas hat uns auf eine schreckliche Art geschlachtet, alles, was unser Volk schon einmal erleben musste … Es war ein Pogrom.

Mein Herz ist zerbrochen und leidet mit allen Familien, die betroffen sind.

Jedes Mal, wenn ich meine Kinder umarme, rollen mir die Tränen über die Wangen, ich denke an die Kinder dort, die noch vor Kurzem ein normales Leben geführt haben – und jetzt …

Ich lebe hier seit 13 Jahren und wollte hierbleiben, aber ich hatte die Chance, nach Österreich zu fahren und meine Kinder in Sicherheit zu bringen …Doch mein Herz ist mit allen Familien, die betroffen sind – es ist wie ein Albtraum.

Ich möchte ein anderes Land sehen, wenn dessen Bürgerinnen und Bürger wie Tiere abgeschlachtet werden, was es dann tun würde … Ich bin wütend, traurig und besorgt …

Aber sie sollen sehen, dass Israel stark ist. Wir haben schon viel durchgemacht, und wir werden da rauskommen – stärker denn je! Jeder, der glaubt, er kann uns vernichten, irrt sich: We are here to stay!



Wir liefen immer weiter

Der Israeli O., 23 Jahre alt, kommt aus der Gegend rund um Tel Aviv und war auf der Supernova Sukkot Gathering im Süden des Landes. In der Nähe des Kibbutz Re’im wurden dort in den frühen Stunden des 7. Oktober hunderte junge Menschen von Hamas-Terroristen überfallen. Sie wurden gejagt, misshandelt und ermordet – unzählige Menschen wurden verschleppt. O. hat überlebt.

Ich fuhr mit zwei Freunden Freitagabend gegen elf Uhr los. Wir waren in so guter Stimmung, hörten Musik und lachten viel.

Die Party war toll, wir haben viel getanzt und Freunde getroffen.

Dann holte ich eine Hängematte aus dem Auto, um ein bisschen zu schlafen.

Um sechs Uhr früh weckte mich mein Freund und sagte, wir müssten los, es gäbe Raketen aus Gaza. Die Polizei verlautbarte, dass wir den Platz räumen und wegfahren sollen. Ich sprang noch ganz verschlafen auf, hörte das Krachen und die Einschüsse rundherum.

Wir liefen zum Auto und begannen Richtung Norden loszufahren.

„Es war eine Treibjagd, wir liefen immer weiter – fünf Stunden lang!“

Da sahen wir zig schwerbewaffnete Terroristen vor uns, die in unsere Richtung schossen, Kugeln flogen mir um den Kopf, ich riss den Wagen herum und nahm eine andere Straße.

Da stand plötzlich ein Bub mit blutigen Händen ohne Finger und schrie: ,Fahrt weg von hier!! Terroristen!‘

Mein Freund schrie: ,Fahr endlich, bieg ab‘, aber ich konnte nicht mehr richtig denken.

Wieder Schüsse, sie schossen auch aus der anderen Richtung, sie umkreisten uns alle immer mehr.

Wir verließen den Wagen und flohen, wie viele andere, in die Felder, die Terroristen hinter uns schossen immer weiter und kamen uns nach.

Neben uns sind Menschen umgefallen, wurden verwundet, erschossen … Es war eine Treibjagd, wir liefen immer weiter – fünf Stunden lang!

Ich habe gefühlt, dass wir alle sterben würden.

Ich weiß bis heute nicht, was mit meinem anderen Freund geschehen ist, er war plötzlich nicht mehr an unserer Seite.

Dann ist ein Mini-Van gekommen, der so viele von uns Überlebenden, wie er auf sein Auto laden konnte, mitnahm, und in das nächste Spital gebracht hat. Ich kann mich nirgendwo mehr sicher fühlen …

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