Wien, Anfang Juni 1967.
Ich besuche die Oberstufe des Mädchengymnasiums in der Albertgasse. Die Schule gilt als „links“, die Direktorin, eine „Hofrätin“, ist angeblich Kommunistin, jedenfalls sind unsere Professorinnen fast durchwegs unverdächtig, was ihre Vergangenheit in der NS-Zeit betrifft, das Kriegsende ist ja noch nicht einmal ein Vierteljahrhundert her, unglaublich.

Da bricht, für uns unerwartet, der Krieg in Israel aus. Dass es ein Sechs-Tage-Krieg werden würde, ahnen wir noch nicht. Unsere Nachrichten, die sich im Wesentlichen auf Zeitungen und das Radio beschränken, sind beängstigend. Israels Existenz scheint angesichts der übermächtigen arabischen Feinde bedroht. Im Elternhaus herrscht Panik.

Unser Klassenvorstand, Frau Dr. Blanka Partl, unterrichtet uns in Geografie und Geschichte. Sie ist eine hervorragende Historikerin und bringt uns bei, die großen Zusammenhänge geschichtlicher Ereignisse zu sehen. Als wir den Zweiten Weltkrieg „durchnahmen“, wie es damals heißt, senkt sie die Stimme und blickte mich an, als sie von den Opfern spricht. Gemeinsam mit meiner Freundin Miryam sind wir die einzigen Jüdinnen in der Klasse. Irgendwie ist mir das sehr unangenehm.

Nun also, im Juni 1967, betritt sie die Klasse und ruft mich zu sich nach vorn. „Es tut uns so leid, was jetzt in Israel passiert, wir fühlen mit euch und euren Familien“, sagt sie leise, aber so laut, dass es die ganze Klasse hören kann. Es ist mir peinlich. Zwar weiß ich, es ist gut gemeint, aber was soll das? Wohin gehöre ich jetzt. Bin ich in Israel? Bin ich Opfer? Hier, in der Klasse, will ich dazugehören.

Daheim ist das freilich anders. Vater sagt, wir müssen helfen. Das heißt, wir müssen spenden. Geld, nicht Blut. Also gehe ich in die Zentralsparkasse an der Ecke zur Josefstädter Straße. Auf meinem gelben Sparefroh-Sparbuch befinden sich 1.250 Schilling. Ich hebe 1.000 Schilling ab. Mein Vater zeigt mir, wie ich sie spenden kann. Ich bin sehr stolz auf mich. Ich habe meinen Beitrag geleistet, schließlich hat man uns gelehrt, man muss so viel geben, dass man es spürt. Ich spüre es. (Das längst entwertete Sparbuch habe ich übrigens noch heute.)

Zurück zur Schule. Blitzartig wendet sich das Blatt, Israel gewinnt den Krieg. Aus den Opfern werden Sieger. Israel wird größer. Israel wird mächtig, besetzt neue Gebiete. Opfer sind jetzt die anderen, die Unterlegenen. Bald schon wendet sich das Blatt auch in den Blättern. Man zeigt vorwiegend die armen Palästinenser.

Warum tut ihr denen das an? Weder laut noch leise wird das in der Schule ausgesprochen, aber ich kann es fühlen, glaube, es fühlen zu können. Es ist mir peinlich.

Déjà-vu. Wien, Anfang Oktober 2023.
Das Unfassbare geschieht. Noch am Abend der Schreckensmeldungen aus Israel erhalte ich eine besorgte Nachricht von einer alten Schulfreundin. Sie weiß, dass ich im Oktober oft in Israel bin, und will wissen, ob ich „eh“ in Wien sei. Bald erreichen mich auch gutgemeinte „Mitleidskundgebungen“ aus meinem nichtjüdischen Freundeskreis. Wir denken an dich, an euch, hoffentlich geht es deiner Familie gut. Peinlich ist es mir nicht mehr. Ich weiß, wo ich hingehöre. Hierher und dorthin. So ist es nun mal.

Jetzt warte ich auf den Sieg. Jetzt erwarte ich, dass sich wiederum das Blatt wendet. Im Blätterwald, der jetzt nur noch digital rauscht, kann ich sie schon heranrollen hören. Die Welle der Sympathie für die armen Palästinenser. Aus den Opfern, werden wieder Täter werden. Nur die Jahrtausende alte Opferrolle, die wir in unserer DNA tragen, bringt uns das Mitgefühl der Welt. Nur tote Juden sind gute Juden.

Uns hier bleibt, so viel zu spenden, dass wir es spüren. Geld, nicht Blut.

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