„Ich habe den Dibbuks hier etwas Gutes getan“

Frederic Lion führt seit nunmehr zehn Jahren das Theater Hamakom im Nestroyhof mitten auf der Mazzesinsel. Erfolgreich und mit Bedacht auf das jüdische Erbe des Hauses, aber auch darüber hinaus. Ein Gespräch zum Jubiläum mit Anita Pollak

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Frederic Lion Geboren in Zürich als Sohn eines Schweizer Kaufmanns und der Schauspielerin Eva Kerbler, studierte Frederic Lion am Reinhardt Seminar in Wien Regie und war bis 1987 als Regieassistent am Burgtheater tätig. Von 1997 bis 1999 unterrichtete er an der Universität in Tel Aviv und arbeitete anschließend als Regisseur, u. a. am Wiener Volkstheater. Seit 2008 leitet er das von ihm gegründete Theater Nestroyhof Hamakom. hamakom.at © Daniel Shaked

WINA: Mit dem Eröffnungsstück Small Talk/Rückkehr nach Haifa des israelischen Autors Ilan Hatsor, in dem es um ein umstrittenes Haus geht, hatten Sie 2009 einen vieldeutigen Auftakt gesetzt. Damals haben Sie mir von Ihren Plänen und Vorstellungen für diesen geschichtsträchtigen Ort erzählt. Was davon haben Sie verwirklichen können, wenn Sie jetzt nach einem Jahrzehnt Bilanz ziehen?
Frederic Lion: Als Theatermacher braucht man eine Portion Fatalismus, wenn man so ein Projekt macht. Man versucht zunächst, ein Jahr zu überleben, und kämpft von Monat zu Monat. Insofern ist es ein großartiges Gefühl, dass ich überhaupt noch da bin und es uns nach zehn Jahren noch gibt. Rückblickend habe ich mehr realisiert, als ich mir vorgestellt habe, und der Raum hat noch stärker mit den Menschen kommuniziert, als ich mir je gedacht habe. Natürlich gab es schwierige Zeiten, aber wir hatten in diesem Jahrzehnt über 100.000 Besucherinnen und Besucher, also etwa einen Schnitt von 10.000 Personen pro Jahr, und das nur vom Kartenverkauf, d. h. abgesehen von anderen Events. Es gab 50 Theaterproduktionen, davon waren rund die Hälfte Eigenproduktionen.

Nun ist das Hamakom ein Ort im wahrsten Wortsinn, ein Veranstaltungsort, vielleicht auch eine „Eventlocation“ geworden. Wie stehen Sie dazu?
❙ Gegen das Wort „Eventlocation“ würde ich mich wehren, wir sind so etwas nicht. Auch wenn bei uns Sachen gemacht werden, die nicht theatermäßig sind, haben diese doch immer einen Zusammenhang mit der Grundstimmung, die hier herrscht. Das betrifft auch die Art, wie man miteinander umgeht.

Dieses Haus hat eine spürbare Seele, die Sie von Anfang an zum Schwingen brachten. Wie sehr haben Sie bei der Programmierung dieses Ortes dem Rechnung getragen, dass dieser nicht nur einen hebräischen Namen (Ha Makom, deutsch: der Ort) trägt, sondern auch eine jüdische Vergangenheit hat – ein jüdischer Architekt, Oskar Marmorek, hat das Haus gebaut, jüdische Künstler waren hier vor dem Krieg tätig?
❙ Sehr stark. Der Aspekt der jüdischen Geschichte ist sehr aufregend, denn diese jüdischen Theatergruppen waren ja hochpolitisch, teilweise zionistisch, teilweise gab es andere Strömungen, und sie haben ein großes Publikum angezogen. Es war eine höchst ambitionierte jüdische Szene, und wenn man sich länger damit beschäftigt, kommt man in jüdische Identitätsfragen hinein. Wenn man Jude ist, macht man das ohnehin sein ganzes Leben. Es ist daher auch ein Ort, um über jüdische Welten zu erzählen, und da gibt es eine aufgeladene Theaterliteratur, die man halt suchen muss – und das haben wir stark in unser Programm und unsere Stückwahl einfließen lassen. So gab es etwa zwei Stücke von Savyon Liebrecht, das Festival Israel.Stücke.aktuell oder Dunkelstein von Robert Schindel, und das hat immer ein großes Echo gehabt. Aber einen Spielplan nur mit jüdischen Themen zu gestalten, würde mir als Künstler nicht genügen, ich will auch an Dingen dranbleiben, die mich im Jetzt beschäftigen. Wir haben uns nie dogmatisieren lassen, auch innerlich nicht. Es ist vielleicht das Beste, dass es uns gelungen ist, dieser Versuchung zu widerstehen.

»Es ist ein Ort, um über jüdische Welten zu erzählen.«
Frederic Lion

Welche Rolle spielt der Standort Nestroyhof mitten auf der „Mazzesinsel“?
❙ Marketingtechnisch wäre es leichter gewesen, hier mit jüdischem Theater und einem relativ unterhaltsamen Programm eine Nische abzudecken und zu sagen, endlich hat Wien wieder ein Theater, an dem man sich lustvoll diesen Themen widmen kann. Marketingtechnisch wäre das sicherlich klug gewesen, viele haben mir dazu geraten; aber wir haben es nicht gemacht, und das hat sich in der Kommunikation mit den Menschen als richtig erwiesen. Wir werden in der Szene auch nicht als „retro“ wahrgenommen. Wir haben durch diesen Anspruch aber auch wenig Stammpublikum, doch das macht gar nichts.

Wie lässt sich der künstlerische Anspruch mit dem Kommerziellen vereinen? Sie haben mir einmal gesagt, dass Sie auch privates Geld investiert haben.
❙ Inzwischen ist es nicht mehr so, wir sind zu über 80 Prozent durch die öffentliche Hand gefördert, der Hauptsponsor ist die Stadt Wien. Das ist schon auch ein Bekenntnis. Doch bis sich ein Theater finanziell und öffentlich etabliert, dauert es oft zwanzig Jahren.

Wie sieht Ihre Perspektive als Hausherr und künstlerischer Leiter aus, wo wollen Sie noch hin, oder fühlen Sie sich schon angekommen?
❙ Ich teile seit zwei Jahren die künstlerische Leitung mit Ingrid Lang, einer Regisseurin und Schauspielerin, die vom Bundesministerium jetzt sogar ausgezeichnet wird. Sie prägt das Haus künstlerisch sehr stark und inszeniert zum Jubiläum die Uraufführung von Phi­lipp Weiss’ Der letzte Mensch. Wir arbeiten sehr teamorientiert. Man soll sich nie zu sehr institutionalisieren, auch im eigenen Gefühl nicht, sondern darauf achten, dass man hinterfragbar bleibt, und sich immer neu und frisch denken. Insofern ist man im Alltag nie angekommen, sondern schreitet fort.

Wollen Sie persönlich den Weg der jüdischen Tradition weitergehen?
❙ Was ist denn Tradition? Es gibt die Tradition des Erinnerns an die Schoah, die wir hier mit Projekten, auch Ausstellungen, sehr gepflegt haben. Jüdische Institutionen haben es in Wien immer schwer gehabt, es war nie „a gmahde Wiesn“. Aber ich fühle mich nur zum Teil als jüdische Institution und spiele gern mit diesem Missverständnis: Sind wir jetzt ein jüdisches Theater oder sind wir keines. Ich finde es gut, dass ich so eine Verwirrung gestiftet habe. Ich lasse die mediale Vereinnahmung als jüdisches Theater zu, habe es aber selbst nie so bezeichnet. Mit der religiösen Tradition kann ich im Medium Theater nicht so viel anfangen, persönlich schon, ich bin ja väterlicherseits in einer religiös traditionellen Familie aufgewachsen. Meine Mutter, die Schauspielerin Eva Kerbler, ist zum Judentum übergetreten. Sie hat in Israel unter dem Namen Lion große Rollen, u. a. an der Habimah, gespielt. Das heißt, ich habe eine doppelte, gelebte Prägung zum Judentum.

Sie haben ja auch in Israel gelebt und unterrichtet, wie ist Ihre Beziehung zur dortigen Szene?
❙ Ich habe zwei Jahre dort gelebt und eine emotionale Beziehung zum Land, bin aber gegen den Nationalismus, der auch in Israel herrscht. Ich habe auch Israel-kritische Autoren eingeladen, die dort hochgeachtet sind und ein großes Publikum haben; aber hier ist man sehr empfindlich gegenüber angeblich Israel-kritischen Positionen, und ich bin deshalb sogar ein bisschen angefeindet worden. Israel ist aber in vieler Hinsicht demokratischer als Österreich, weil man dort auch über viele Tabus sprechen kann.

Welche Rolle spielt da das Theater, gerade im Ansprechen von Tabus?
❙ Das Theater hat immer einen humanistischen Kern und interessiert sich für Politik in einem globalen Sinn, d. h. wie sie den Menschen prägt. Die israelischen Autoren, die hier waren, haben einen künstlerisch-humanistischen Wert, aber sie haben eben auch Meinungen.
Ich habe hier anlässlich der Gazakrise 2014 einen Aktionstag unter dem Motto „Ein Land und zwei Völker“ nach dem gleichnamigen Buch von Martin Buber gemacht. Ein unglaubliches Werk, weil Buber bereits in den 20er-Jahren erkannt hat, wo der Nationalismus hinführt. Nach meiner Lesung haben wir zwei Stunden diskutiert, und jede und jeder ist bereichert hinausgegangen. Das war für mich ein sinnvoller Moment.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Hauses?
❙ Insgesamt bin ich zufrieden, was mich aber schmerzt, ist, dass noch zu wenige Menschen unser Haus kennen und wir keine weitere Ausstrahlung haben. Das hängt mit den geringen Werbemitteln zusammen.
Es ist schön, dass es noch so viel zu tun gibt. Bis 2024/25 möchte ich es jedenfalls noch gerne leiten, dann hoffe ich, dass es auch ohne mich weiterbestehen wird. Das Jüdische war stark mein persönliches Interesse, es könnte sich aber in Zukunft auch davon entfernen. Wenn ich ein Theater wieder zum Leben erweckt habe, ein irreversibles, dann habe ich den Dibbuks, die hier herumschweben, etwas Gutes getan.

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