Jetzt geht es alle an

In ihrem Jugendroman Dazwischen: Ich ließ Julya Rabinowich 2016 ihre Heldin Madina erzählen, wie es ist, flüchten zu müssen und dann zu merken: Auch im vermeintlich sicheren Land ist nicht alles eitel Wonne. Eine Asylunterkunft hat wenig gemeinsam mit einer Ferienanlage. Nun legte die Autorin mit Dazwischen: Wir eine Fortsetzung vor.

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Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir. Roman, Hanser 2022 256 S., € 17,94 © Hanser Verlag

Madina hat sich verändert. Der Kampf ums Hier-bleiben-Dürfen ist gewonnen, mit ihrer Familie wohnt sie nun bei ihrer Freundin Laura. Stück für Stück versucht sie zu leben, wie eine Jugendliche hier zu Lande lebt, bemüht sich dabei aber auch, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Noch sucht sie ihren Platz irgendwo zwischen den Usancen im Herkunfts- und jenen im Zufluchtsland. Dem Grenzen-Ausloten kommt die innerliche vorauseilende Fürsorge vor allem für die Mutter in die Quere. Madina ist für eine Jugendliche sehr erwachsen geworden, vielleicht auch, weil ihr nun sehr viel Verantwortung zukommt: Die Mutter leidet an Depressionen, für den kleinen Bruder ist sie daher mehr Mutter als Schwester. Und der Vater ist nicht mehr hier. Ihn vermisst sie, immer wieder kreisen ihre Gedanken um ihn. Die Beziehung mit Markus ist neues Terrain. Und dann ergeben sich auch noch in der Freundschaft mit Laura Bruchstellen. Nein, obwohl Madina nun vermeintlich in Sicherheit ist, im Paradies ist sie nicht angelangt, im Kleinen nicht und im Großen auch nicht. Vor Krieg und Hass ist sie geflohen, um sich nun einem ausländerfeindlichen Mob gegenüber zu sehen.

 

Julya Rabinowich schreibt hier unser aller Geschichte:
Wie reagieren wir, wenn Menschen

in unserer Mitte von anderen Menschen
ausgegrenzt und angefeindet werden?

 

Mit rassistischen Schmierereien fängt es an – „Asylanten – weg mit dem Dreck“ –, dann kommen die „Ausländer raus!“-Rufe. Zuerst auf dem Hauptplatz, später vor der Türe. Wenn eine grölende Menge vor dem Haus steht, mit Fackeln in der Hand, dann ist das schon ein ziemlich bedrohliches Szenario.

Der Titel „Dazwischen: Wir“ ist allerdings Programm: längst geht es nicht mehr nur um die Geschichte Madinas. Julya Rabinowich schreibt hier unser aller Geschichte: Wie reagieren wir, wenn Menschen in unserer Mitte von anderen Menschen ausgegrenzt und angefeindet werden? Wie entwickelt sich ein Mob, wie wird er stärker, und wie können sich ihm andere entgegenstellen? Zivilcourage ist hier gefragt. Angesichts dessen, was wir derzeit auf den Straßen Wiens im Rahmen der Proteste von Coronamaßnahmengegnern nahezu jeden Samstag erleben, sind das Fragen, die aktueller nicht sein könnten. Gleichzeitig entwickelt Rabinowich vor allem die Erzählerin Madina geschickt weiter, fügt sanft statt plakativ ein Puzzle der Zerrissenheit zusammen. Auch wenn hier große gesellschaftliche Fragen mitverhandelt werden, ist es dennoch eine Coming-of-age-Geschichte, die die Autorin feinfühlig erzählt. Und ja, da merkt man, dass sie weiß, wovon sie spricht.

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