Nahaufnahmen in Schwarz-Weiß

Der eineinhalbstündige Dokumentarfilm 1341 Frames of Love and War erzählt die Lebensgeschichte von Micha Bar-Am – und damit eine Chronik Israels – anhand seiner Bilder.

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Eines von vielen Bildern, die Micha Bar-Ams von den Kriegsschauplätzen dieser Welt gemacht hat und die heute vielfach zu Ikonen geworden sind und stetig an Bedeutung gewinnen. © Micha Bar-Am

Es wird erdrückend still im Saal, während der israelische Dokumentarfilm 1341 Frames of Love and War erstmals auf der Berlinale im Februar 2022 über die Leinwand läuft. Der Streifen beginnt langsam mit einer Schwarzweißaufnahme von endlosen Sanddünen und führt dann fast ausschließlich mit Fotografien durch die konfliktreiche Geschichte Israels. Nach eineinhalb Stunden waren die Zuschauer zugleich versunken und hellwach in ihren Sesseln ob der Intensität der vor ihnen in Großformat ausgebreiteten Bilder, als hätten sie in ein Riesenalbum durchgeblättert.

Sein ganzes Leben lang hat er die Welt
um sich herum fotografiert, eine halbe
Million Bilder in sieben Jahrzehnten. Im
Fokus sind immer wieder Kriegsschauplätze.

Der Film dreht sich um das Lebenswerk des 91-jährigen Fotografen Micha Bar-Am, also um seine Bilder. Die Weltpremiere fand in seiner Geburtstagstadt Berlin statt. Ohne ihn. Wegen Corona war er nicht aus Israel angereist. Diejenigen, die an diesem Abend kamen, saßen mit Abstand und Masken. Das war noch vor dem russischen Einmarsch in der nur 846 Kilometer entfernten Ukraine. Krieg schien da für die meisten Besucher der Berlinale noch etwas, das allenfalls auf einem fernen Kontinent, wie in diesem Fall im Nahen Osten, passiert. Im Saal aber befanden sich auch Israelis, jüngere und ältere. Existenzkampf und Konflikt sind seit jeher mit ihrem Land verbunden. Und Micha Bar-Am ist einer der herausragenden Chronisten.
Im Film sieht man ihn nur selten. Wenn, dann ist sein Gesicht hinter seiner Kamera und von einem buschigen Vollbart versteckt. Sein ganzes Leben lang hat er die Welt um sich herum fotografiert, eine halbe Million Bilder in sieben Jahrzehnten. Im Fokus sind immer wieder Kriegsschauplätze. Man sieht Soldaten, Tote, Verletzte und Gefangene vor, während und nach Gefechten im Sechstagekrieg, Jom-Kippur-Krieg, Libanonkrieg, Golfkrieg, aber auch andere Orte des Traumas, wie den EichmannProzess. Manche Szenen zerreißen einen fast beim Hinschauen. Andere wärmen das Herz. Sie sind das Material, von dem der Film lebt, als wären es laufende Bilder, begleitet von O-Tönen aus Interviews, die der Regisseur Ran-Tal mit Micha Bar-Am, seiner Frau Orna und den Söhnen geführt hat. Ab und zu streitet sich Micha mit seiner Frau, wenn es um die genaue Zuordnung seiner Aufnahmen geht. Orna, die ihr Talent als Malerin zeitlebens der Karriere ihres Mannes untergeordnet hat, scheint da oft einen besseren Überblick behalten zu haben als er. Das Archiv befindet sich im Keller seines Hauses in Ramat Chen, ordentlich sortiert und beschriftet, wie es sich für Jekkes gehört. Man sieht, wie er dort als Fünfjähriger im Schnee stapft, aufgenommen von seinem Vater mit einer 16-mm-Kamera. Die privilegierte Kindheit endet abrupt. 1936 emigriert die Familie nach Palästina, von da an will der kleine Junge aus Deutschland nur mehr Israeli sein, dazugehören, er kämpft in der Palmach im Unabhängigkeitskrieg, in den 1950er-Jahren ändert er seinen Namen um in „Bar-Am“, Sohn der Nation.

1341 Frames of Love and War ist eine Bilderreise im
Zeitraffer durch die israelische Geschichte. Kann
ein ausländisches Publikum aber einen solchen
Film überhaupt verstehen und einordnen?

 

Damals gehört er zu den Gründern des Kibbuz Malkiya in Galiläa und beginnt mit einer geliehenen Kamera das Leben dort festzuhalten. Dann arbeitet er mehrere Jahre als Fotograf bei der israelischen Armee. Zu dieser Zeit sind seine Vorbilder die Fotografen, die für Illustrierte wie das Life Magazin arbeiten. 1968 wird er Mitglied von Magnum, der 1947 vom legendären Robert Capa gegründeten amerikanischen Fotoagentur. Seine Bilder erscheinen jahrelang in der New York Times. An Capas Diktum „Wenn deine Bilder nicht gut sind, bist du nicht nah genug dran“, hat sich Micha Bar-Am stets orientiert. Sein Mentor verwies dabei aber auch die andere Seite der Medaille: „Wenn du zu nahe dran bist, verlierst du die Perspektive.“

1341 Frames of Love and War. Regie: Ran Tal, Israel/GB/USA 2022, 89 Min., Farbe & Schwarz-Weiß

Weil Micha Bar-Am aber in jedem Fall oft nah dran ist, fragt man sich, und er fragt sich im Film auch selbst, welche Spuren das in der Psyche hinterlassen hat. Seine Söhne beklagen sich rückblickend über einen Vater, der oft abwesend war und aufbrausend sein konnte, wenn er zuhause war. Sie erzählen, wie sie dann alle mehr oder weniger im Rhythmus der halbstündigen Radionachrichten lebten, weil Micha Bar-Am immer am Sprung war. Familienalben gibt es bei den Bar-Ams nicht, dafür viele Bilder von Frau und Kindern, die sich über das Archiv verteilen und oftmals geschossen wurden, wenn es darum ging, noch schnell eine angefangene Filmrolle zu Ende zu bringen. „Ich bin den Kriegen nicht gefolgt“, sagt er heute, „sondern habe mir eine aufregenden Job gesucht, von dem ich auch noch leben konnte“.
Manche seiner Aufnahmen sind längst zu Ikonen geworden, haben auch oft im Nachhinein noch an Bedeutung gewonnen. Dazu gehört das berühmte Bild des Fallschirmspringers, der nach dem Sechstagekrieg mit einer gestrickten Kippa auf dem Kopf vor der Klagemauer steht, eine Gewehrkugelkette um den Hals, was ein wenig so aussieht, als hätte er einen Gebetsschal um. Später konnte Micha Bar-Am dann lesen, dass sein Bild für Historiker jenen Moment darstellt, an dem sich Religiosität mit militärischer Macht vereint.

1341 Frames of Love and War ist eine Bilderreise im Zeitraffer durch die israelische Geschichte. Kann ein ausländisches Publikum aber einen solchen Film überhaupt verstehen und einordnen? „Es ist nicht leicht, vor allem die jüngeren Generationen durch all die historischen Geschehen zu führen; es ist aber auch okay, wenn dabei etwas verloren geht“, sagt Produzent Sarig Peker. Der Film verlange einiges ab, sei aber auch lohnend. Im Film sieht man immer wieder die kleine Küche, in der bei den Bar-Ams bis heute viel diskutiert wird. Auch ich bin dort schon öfters mit ihm und seiner Frau gesessen. Dabei erwähnte er auch einmal die Grenzen seiner Arbeit. „Die Menschen wollen nicht immer neue Dramen, sie wollen das Bekannte, sie sind auf bestimme Sachen fixiert, und es ist oft zu viel Arbeit, die Komplexität der Realität zu erklären.“

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