Der Tisch war zu lang, viel zu lang für die Leere, die er anzeigte. Und unerträglich lang für die drei innerlich fröstelnden Menschen, die am Kopf des Tisches standen. Mit angespannter Disziplin verweigerten sie den Blick zum anderen Ende: Zum ersten Mal seit vielen Jahren erschien das festliche Arrangement so überflüssig, fehlten doch die vielen – zumeist zwölf – Geladenen, die sich jährlich am Sedertisch meines über alles geliebten Vaters versammelten.
In der wachen Erinnerung an diese Abende höre ich das vielsprachige Stimmengewirr, sehe lachende Augen, gepflegte Frisuren und sehr unterschiedlich gekleidete Männer und Frauen. Die Gäste meiner Eltern waren über alle Jahre bunt gemischt: Am Anfang dieser schönen Tradition versammelten sich die aus Ungarn, Rumänien und Polen geflüchteten jüdischen Singles, darunter der fesche Medizinstudent, die heiratswilligen Mädchen, die schüchternen Jeschiwa-Schüler sowie mindestens zwei bis drei tüchtige Kaufleute.
Mit den Jahren kamen die Mädchen unter die Haube, die Jeschiwa-Schüler verteilten sich als Familienväter über halb Europa und Israel; treu verbunden blieben trotz beeindruckender Karriere der Arzt und ein Immobilienfachmann. Der reich gewordene Supermarktbesitzer schämte sich wahrscheinlich, dass er einmal „Bocher“ war, und grüßte uns drei nur mehr selten. Die Sederabendeinladungen erstreckten sich dann auf gleichaltrige Freundespaare meiner Eltern und auf Freundinnen und Kollegen, die ich heranschleppte.
Bevor der Sederabend seinen Anfang nahm, zog sich mein Vater seinen blütenweißen Kittel, den Hochzeits- und Totenmantel, an.
Meine fromme Mutter und perfekte Hausfrau freute sich immer über die vielfältige Gästeschar – konnte das aber nicht so zeigen. Ihre Liebe drückte sie durch die Vorbereitung wunderbarer, aufwändiger Speisen aus. Unter Anleitung meines Vaters bereitete sie die Sederschüssel mit den diversen Symbolen darauf vor, unter anderen Salzwasser, hartes Ei, bittere Wurzeln und ein dunkel gebratenes Hühnerflügerl. Sie holte das koschere Pessachgeschirr aus seinem Versteck, wo es ganzjährig gestapelt war, weil es nur diese acht Pessachtage verwendet werden durfte. Der zarte Goldrand und die schlichte kobaltblaue Bordüre auf den Tellern und Schüsseln glänzten mit den frisch polierten Silberleuchtern um die Wette. Dies alles blieb über die Jahre unverändert schön und auch irgendwie bescheiden. Dem steigenden Wohlstand geschuldet, veränderten sich nur die Glas-Bestände, man wurde anspruchsvoller.
Bevor der Sederabend seinen Anfang nahm, zog sich mein Vater seinen blütenweißen Kittel, den Hochzeits- und Totenmantel an, der mit durchgehenden schmalen Biesen und einem Spitzenkragen versehen war.
Erst dann war er bereit, den Kiddusch über den Rotwein zu sprechen und die goldbestickte dreilagige Matzottasche zum melodischen Gebet in die Höhe zu heben: Ho lachmo anjo – Dieses ist das armselige Brot (… das unsere Vorfahren im Lande Mizrajim gegessen haben – lautet der Text weiter). Das war Jahrzehnte lang Tradition.
Doch an diesem Abend ging das nicht. Ging das nicht mehr. Der Kittel erinnerte uns drei schmerzlich daran, dass der todkranke Mann dieses Gewand bald in einem anderen Zustand tragen würde. Da er Schläuche und einen Verband am Körper hatte und sich nicht richtig in Schale werfen konnte, kam der kaminrote seidene Hausmantel zum Einsatz. Mit tränenerstickter Stimme hob er zum ersten Gebet an, um die Sklavenschaft der Juden in Pharaos Ägypten zu beklagen. Mit gesenkten Köpfen und erstarrten Körpern standen wir da: Es war der letzte gemeinsame Seder. Und der Tisch war viel zu lang und zu leer.